LCB

JUNIVERS 2021

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

Kuratiert von Aurélie Maurin.

Amanda Gormans »The Hill We Climb« wurde durch ihren Auftritt bei der Amtseinführung von Joe Biden innerhalb kürzester Zeit berühmt. Die Bekanntgabe, dass Marieke Lucas Rijneveld als weiße Person die niederländische Übersetzung des Textes übernehmen sollte, löste große identitätspolitische Diskussionen aus, die schließlich im Rücktritt Rijnevelds mündeten. In den Feuilletons schloss sich eine Auseinandersetzung um die Frage an, was Übersetzung eigentlich heißt, darf, kann und soll. Die deutsche Übersetzung von »The Hill We Climb – Den Hügel hinauf« (Hoffmann & Campe, März 2021) fertigten Kübra Gümüşay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling zusammen an. Mit Insa Wilke reden die Übersetzerinnen über das Inaugurationsgedicht, über die Herausforderungen und Chancen der gemeinsamen Übersetzungsarbeit sowie über die Diskussion darum, wer wen übersetzen darf. Die Veranstaltung ist Teil der Reihe Berührungsängste, in der Übersetzer·innen den Sensibilitäten nachspüren, die ihre Arbeit mental, politisch oder ideologisch begleiten.
Der Abend eröffnet zugleich das diesjährige JUNIVERS-Programm, das mit Interventionen zum Kosmos der Lyrikübersetzung den ganzen Monat über stattfindet.

videoplayer Thumbnail

Digital Essay mit Dialogen, Reflexionen, künstlerischen Positionen im Rahmen von JUNIVERS 2021

The Game(s) of Translation

The Game(s) of Translation nimmt explorative, subversive, aktionistische Lyrikübersetzungen in den Blick: Lyrikübersetzer·innen, Literaturwissenschaftler·innen und Künstler·innen haben sich mit dem kritischen Potential von Praktiken, Konzepten und Theorien auseinandergesetzt, die sich als Interrogationen der übersetzerischen Kulturtechnik und ihrer tradierten und ungeschriebenen Regeln begreifen und/oder als solche wirksam werden. Ein Format des Exzellenzclusters »Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective« in Kooperation mit TOLEDO und LCB.

 

 

Mit Beiträgen von
Shane Anderson, Simon Godart, Simone Homem de Mello, Lea Hopp, Wolfgang Hottner, Anna Luhn, Marion Maurin, Melanie Möller, Felix Schiller, Sophie Seita, Jasmin Wrobel und Tr4ducc1ón 3xp4nd1d4

Konzept: Anna Luhn und Lena Hintze
Visuals: Franziska Paul

»Gather your marginals, Mr. Specific. The end / is nigh.«

Steffen Popp über Ben Lerner:
The Lichtenberg Figures

»В огромном городе моем – ночь. / Из дома сонного иду – прочь«

Anja Utler über Marina Cvetaeva:
Бессонница / Schlaflosigkeit

»Ça va je dis sans dire et la tête et la tête«

Marie Luise Knott über Valérie Rouzeau

»It is by seize us. That they christen. Baby. With by. Caesar. / Seize us. That they Christen. A baby. / Which. They do not have. Or. Come. Completely. Finding it. / An aunt. / No one. Mentions. Ants.«

Ulf Stolterfoht über Gertrude Stein

»El ascenso de un miembro inferior«

Michael Ebmeyer über Humberto Quino

»Matibabu / Heilung «

Birgit Kreipe über L-ness

Die Reise ins All
von Dana Ranga

Die Reise ins All

Jemand … Übersetzt
von Dana Ranga

Monika Cassel … Übersetzt

Wer traut mir? Traue ich mir selbst? Das ist wohl die erste Frage, die mir kommt, wenn ich überlege, ob ich in der Übersetzung ein Capcom bin oder sein kann. War ich schon mal eine Reisende ins Weltall, und bin ich nun fest auf der Erde gelandet und so zum Capcom-Beruf geeignet? Diese Fragen stellt mir das Gedicht „Jemand…Übersetzt“, gerade auch beim Übersetzen: im US-Englischen heißt der Capcom nach dem NASA-Hauptquartier „Houston“ (wie in dem berühmten Satz „Houston, we have a problem“); der Mensch, der für Kommunikation zuständig ist, trägt den Namen der Stadt und symbolisch die der Erde, die die Astronauten (vorübergehend) verlassen. Ich behalte beim Übersetzen aber das Wort „Capcom“ bei, weil das amerikanische Wort mit seinen berühmten Resonanzen im Gedicht fehl am Platz ist. Hier bin ich wohl ein Filter, der störende Resonanzen aussortiert.

Der Capcom war mal im Weltall und ist jetzt wieder auf der Erde; er übersetzt zwischen beiden Welten, damit die Menschen auf beiden sich verstehen. Meine Muttersprache ist Deutsch, meine Vatersprache Englisch. Ich ziehe mit (m)einem Faden ein deutsches Gedicht aus dem Weltall und befestige es hier an die Sprache des Landes, wo ich geboren bin und auch wohne. Als Kind und Studentin habe ich öfters für ein Jahr in Deutschland gelebt; solche längeren Aufenthalte in deutschen Sprachräumen sehe ich nicht mehr in meiner Zukunft. Was ist dann mein Weltall, was meine Erde? Deutsch ist die Sprache meiner Kindheit und meiner Vorfahren, die vertraute und etwas verblichene Rosenranke auf dem Buchdeckel meines Kindermärchenbuches; die Sprache lebt zwar für mich in Gesprächen mit meiner Familie, aber hauptsächlich in Büchern. Dagegen das Grün des Jetzt, erfasst auf einem Hundespaziergang im Regen, in meiner jetzigen Welt in Oregon. Zwischen beiden die Blätter des Hefts, in das ich Dana Rangas Wörter erst mit meiner eigenen Hand schreibe, um sie zu verinnerlichen, bevor ich sie dann auf Englisch verkörpere. Ich übersetze Lyrik, weil Gedichte in mir neue Räume schaffen. Und ein Gedicht, das ich übersetze, wird Teil meines Selbst. Es lebt in mir, in beiden Versionen, weder als Andenken meiner Kindheit noch als einheimischer, angewurzelter Teil meiner jetzigen Landschaft, sondern als etwas ganz Neues und Eigenes. Durch meine Arbeit wird es ausgesät und findet auch durch neue englischsprachige Leser∙innen in einem neuen Land neuen Boden, um zu gedeihen.

Wo lebt der Capcom in seinem Innern? Vermutlich reist er nicht mehr ins All. Meint er, dass er eigentlich dort hingehört, oder fühlt er sich durch seine Rolle dort verankert? Er ermöglicht und erleichtert die Kommunikation zwischen Weltall und Erde; er schafft die Verbindung. Ich ziehe den Faden; vielleicht schaffe ich einen Anker, vielleicht schaffe ich ein Bild, wo Weltall und Erde sich ähneln—aber wer reist in welche Richtung? Vor allem bin ich auch der Faden; ich schwebe zwischen beiden Regionen, nirgendwo und zugleich in beiden zu Hause. Durch den Faden weiß ich aber auch, dass die Welt, in der ich täglich lebe, und meine innere Sprachwelt, beide noch in mir verbunden sind.

 

Jayashree Hari Joshi … Übersetzt

 

Liebe Dana Ranga,

ich schreibe selber Gedichte. Das ist fast wie das Fliegen ins All, wie eine Flucht aus der Welt. Ich bekomme fantastische Träume. Ich träume oft, dass ich durch den Wald spazieren gehe. Das sind Deine Wörter wie auch meine.

Wenn ich von einem Gedicht träume, tanzen mir die Bilder vor den Augen. Ein zufällig vernommenes Wort folgt mir wie ein kuscheliges Kätzchen. Eine Melodie, die ich irgendwann gehört habe, begleitet mich im Halbschlaf. Irgendein flüchtiger Gedanke flüstert mir zu. Wenn ich wach bin, versuche ich, die Kernbotschaft meines Gedichts auf verschiedenen Ebenen einzusaugen. Wörter. Klang.  Inhalt. Struktur. Gestalt. So entsteht es.

Das Gedicht als Ganzes gewährt mir eine Einsicht in sein Inneres. Ich sage bewusst: Einsicht! Wie du sagst: Cosmos! Es ist kein banales, bloßes, einfaches Verständnis, das auf der Oberfläche entsteht und sich in der Form eines Gedichts verdichtet. Es ist eine schleierhafte Beziehung, die entsteht, zu einem Bild, zu einem Wort, zu einem Laut. Es ist viel tiefer, es ist eine begründete Kehrtwende, ein tiefes Eintauchen, mal fühlt man sich den tiefen Grundboden ein, steif und stabil, mal stößt man auf Lorelei und scheitert. Es ist wie Schwimmen unter Wasser. Manchmal ist das Meer so wild und die Wellen so hart, dass man erblindet.

Es sind aber die Grundelemente des Daseins in mir, die ich in einem Gedicht umschreibe. Das Feuer brennt in meiner Brust, die Luft trägt mich. Ich bin in der Erde eingepflanzt. Das blaue Wasser umgibt mich aber immer. Der Himmel schaut mich gnadenvoll von oben an.  Das ist summa summarum von meinem Wesen. Sie dichten mich und ich schreibe Ge-dichte.

Liebe Dana, ich habe deine Gedichte im „Cosmos!“ gelesen. Für Schleiermacher ist das Übersetzen ein Vorgang des Verstehens und des Zum-Verstehen-Bringens.  Am Anfang ergriff mich ein Erstaunen, als ich deine Welt – besser gesagt, dein Weltall – betrat – ich wurde dorthin über-setzt. Als Übersetzer muss ich ein guter Leser sein. Ich lese das Gedicht, ich versuche, das Gedicht in mein Bewußtsein einzupflanzen, den Samen in meine Erde neu zu säen und dann den gedeihenden Sprößling verwundert zu betrachten, der emporragt und so übersetzt zu mir kommt. Übersetzen ist eine ewige Feier. Literarische Übersetzung ist eine Gratwanderung. In diesem Seiltanz muss man sehr gut aufpassen, ein Schritt daneben, und man würde den Anschluss verpassen.

Bevor ich entscheide, ein Gedicht zu übersetzen, muss es für mich eine Lusterfahrung von benennbaren und unbenennbaren Sinnlichkeiten sein: eine Beschleunigung des Pulses, ein Kribbeln auf der Haut, eine Beschleunigung des Herzschlags. Besonders bei deinen Gedichten ist Übersetzen ein Anti-Schwerkraft-Versuch. Hier gibt es zwei parallele Welten, die miteinander kommunizieren. Dazu noch meine kulturspezifische Welt. Bei deinen Gedichten ging es um Über-Setzung von Inhalt, Struktur, Klang und Gestalt – wir sitzen da in einer Fähre, der Strom bringt uns schwingend rüber, von einem Ufer zu dem Gegenüber. Es ist diese Schwerelosigkeit – ein inniges Gefühl, dass sich etwas herstellt, herstellen kann, das so und bislang noch nicht da war: – eine Bewegung, ein Darüberhinaus.

In vielen Rezensionen habe ich gelesen: Der Gedichtband „Cosmos!“ enthält 80 Gedichte. Sie sind dichterisch verarbeitete Stoffe, poetische Recherchen in drei Abteilungen – Vorbereitungen, Aufenthalt im All und Rückkehr. Sie sind in drei Kapitel gefasst. Die Anordnung dieser Kapitel in der Trias „Prolog“, „Cosmos!“ „Epilog“ wirkt linear, die Darstellung wandert von linksbündiger zu rechtsbündiger Versausrichtung.

Diese Elemente sind als Bauelemente ebenfalls wichtig für das Übersetzen.

Dein Docu-Gedicht hat ein neues Design. Hier landest du einen Volltreffer! Wir sind hier als Dichter∙innen und Übersetzer∙innen gemeinsam auf der Suche nach einer Sprache der mystischen Raumfahrt geraten – wir sind hier wiederum auf einer gemeinsamen Reise von Wort und Raum, die sich wie ein dunkler Faden von der Romantik bis in unsere Gegenwart zieht. Durch Cosmos! hat diese Entdeckungsreise eine neue Dimension gewonnen.

Dana, Du läßt eine neue Sprache zu Wort kommen. Das ist eine große Herausforderung für eine Übersetzerin. Wie entwickle ich eine Ausdrucksweise? Wird es gekünstelt klingen? oder sehr gewählt? Wie kann ich diese neue „Spür-Sprache“ erstellen? In diesem Fall überkam mich das Gefühl, eine Reisende in einer Traumwelt zu sein, in der Dinge und Orte uns umgeben, mir ins Bewusstsein dringen und ich das dort Wahrgenommene in Sprache aufbauen muss. So schwebte ich mit, in dieser Weltallkultur, die zwischen Diesseits und Jenseits lag.

Ausgehend von den zahllosen Interviews mit Astronauten und Kosmonauten hast Du deren Erkenntnisse in Versen verdichtet. Du bist ja renommierte Filmemacherin und Deine Gedichte haben einen starken filmischen Charakter, sie haben ein starkes visuelles Element. Allein in der Zubereitung einer warmen Astronautenmahlzeit steckt so viel literarisches Potential. Du hast sehr gewandt die Erfahrungsberichte der Raumfahrer∙innen in kompakter Zeilenanordnung als dichterischen Stoff präsentiert. Meine Frage ist: Wie kann ich diese Komponente in meiner Sprache inhaltlich, dichterisch, strukturell und semantisch zu Wort kommen lassen?

In einer Rezension heißt es: „…Wir fliegen mit ihnen durchs All, pendeln zwischen dem Lärm der Maschinen und der „Musik / des Weltraums“, um am Ende wieder auf der Erde zu landen, versunken in die Frage nach dem Glück oder auch ziemlich ernüchtert.“

Mich beschäftigten eben dieses Versunkensein und die Ernüchterung durch diese Reise, es ist eine Seltenheit in der lyrischen Kultur, der ich entstamme. Ein neues Sprachregister muss geschaffen werden. Mit diesen Gedichten in drei Abteilungen kehrte ich immer wieder zurück zu der hinduistischen bzw. buddhistischen Philosophie. Ich dachte über die Grenze zwischen Leben und Tod nach, über jenen letzten Schritt von hier nach dort. Die Schwerelosigkeit, dennoch die Beschwingtheit des Geistes, das Nirgendwosein bzw. -ankommen. Dann dachte ich auch an die Schöpfung als Kreislauf der Materie – Kreislauf aller Stoffe im ganzen Universum. Ich dachte an den großen Schöpfer Brahman als Prolog, der nach dem hinduistischen Glauben die Einzelteile immer wieder neue zusammensetzt – zu Planeten, Landschaften, Tieren, Pflanzen und auch zu Menschen. Ich dachte an die Gottheit Vishnu als Cosmos!, Vishnu erhält das Erschaffene für eine Weile, bis die Gottheit Shiva es wieder zerstört, als Epilog, damit wieder etwas Neues aus den Einzelheiten entstehen kann. Dabei geht aber nie was verloren. Beim Weltall dachte ich gleich an die Kommentare des Buddhismus. Dort gibt es einen Begriff von ākāsa, der so viel wie freier Raum, Luft, Sterne und Schall bedeutet. Es ist eine Bezeichnung für zwei Arten des Raumes: den durch die Körperlichkeit „begrenzten Raum“ (ākāsa-dhātu) und den „unbegrenzten Raum“ (ajatākāsa), dem Weltraum.

In vielen Sutras (einprägsame kurze Lehrsätze in Versform) wird der der Körperlich-keit angehörende „begrenzte Raum“ in der Gruppe der sechs Elemente (festes, flüssiges, erhitzendes, luftiges Element, Raumelement, Bewusstseinselement) aufgezählt, während der „unbegrenzte Raum“, wie die Zeit, keine Wirklichkeit besitzt. Das ist eine grundsätzliche Leere! Für mich schildern diese Gedichte einen Zustand des vollkommenen Nicht-Anhaftens.

Liebe Dana, was eine wahrhaft kulturübergreifende Vermittlung befeuert, ist die Neugier. Sehr oft liegt der Schlüssel zur Lösung von Problemen darin, Fragen zu stellen – man muss unverzögert detaillierte, kleine, kritische, nagende, ernste, bohrende Fragen stellen. Für mich ist das Übersetzen ein ständig im Werden begriffenes Phänomen; ein Fragenkatalog, der viele Antworten umschließt. Übersetzung ist zeitbedingt, unvollkommen, vorläufig und unabgeschlossen. Nach Schopenhauer kann man Gedichte nicht übersetzen, sondern bloß umdichten, welches allezeit misslich ist. Ich wage es trotzdem.

Schmunzelnd denke ich spontan an Enzensbergers Fragen an die Kosmologen und schließe die Datei, die Cosmos heißt, mit einem Ausrufezeichen!

Jayashree Hari Joshi

Douglas Pompeu … Übersetzt

Übersetzungskosmos

Bei der Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises beginnt Anne Weber ihre Dankesrede mit einer Anekdote, wonach ein europäischer Tourist auf einer Durchreise in Indien nach einer Coca-Cola fragt, vom Verkäufer aber eine Fanta serviert bekommt. Als er die Verwechslung erklärt, erhält er von dem Inder folgende Antwort: „Same, same. Same – but different!“

Im Wilhelm Tell in Manila von Annette Hug übersetzt der philippinische Held José Rizal Schillers klassisches Stück ins Tagalog. Rizal sucht in seiner Übersetzung nicht nur nach sprachlichen Äquivalenten, sondern verschiebt auch die gesamte Handlungslandschaft des Ausgangstexts. Die Alpen zum Beispiel brechen zwischen den Vulkanen tropischer Inseln aus, Bergschnee und Sandstrände verwechseln sich beständig und nehmen den Platz voneinander ein. Nicht nur Text, sondern Welten werden hier übertragen.

„Jemand […] Übersetzt“ von Dana Ranga bietet uns eine weitere wunderbare Übersetzungsdefinition. Hier driftet die Übersetzende zusammen mit Radiowellen ins Weltall ab. In einer Übersetzerkapsel, an den Grenzen ihres Übersetzungsschreibtischs weiß sie aber, dass ohne ihre Übertragungen keine Außen- und Innenwelt möglich ist. Wir sehen sie, wir erkennen uns in ihr wieder. Wie oft sind wir nicht selber dieser schwebende Capcom? Befinden wir uns nicht in der gleichen Position, zwischen All und Bodenstationen, zwischen Welten, aus denen uns die unterschiedlichsten Arten von Signalen pausenlos ausgestrahlt werden, fragend: Welche der aufleuchtenden Knöpfe sollten wir jetzt drücken?

Überfordert mit der telemetrischen Steuerung finden wir ihn aber nicht. Es gibt ihn nicht – den Knopf zur Übersetzung. Übersetzungen kreisen nicht nur um die Suche nach sprachlicher Äquivalenz, sondern auch um den Umgang mit Rauschen, Missverständnis und Asymmetrien. Besonders die Lyrikübersetzung, bei der Sprachklang, -Rhythmus und -Gesten im Vordergrund stehen, scheint mir, von diversen Frequenzen sowie Interferenzen getroffen zu sein.

Als Lyrikübersetzer habe ich nicht selten das Gefühl, mich im dunklen Vakuum der Sprache zu bewegen. Nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch in den Zwischenräumen der Zielsprache. Wir wissen, wie man mit Begriffen umgeht. Wir sind daran gewöhnt, Sprachkarten und -Atlanten mit den Fingern entlang zu fahren. Aber wie trifft man einen Ton? Wie trifft man nicht nur den übertragenen Sinn eines Textes sondern auch was zwischen Wörtern, Sätzen und Versen lauert? Die Dunkelmaterie der Wirkung? Eine gewisse Stimmung?

Wenn ich Lyrik übersetze, passiert oft das: Ich schaue manchmal auf, dann betrachte ich die Spuren meiner Raumfahrt im Bildschirm. Vor mir erkenne ich meine Versuche, im Orbit eines Triebwerks. Ich lese sie vor, passe noch ein oder zwei Verse an. Lese sie noch einmal vor. „Same, same, but different“ will ich dazu sagen. Aber ich fange von Null an. Ich versuche noch einmal, in der Hoffnung, dass meine geräuschvollen Variationen Fuß an einer der Bodenstation fassen, dass sie auf einer Seite befremdlich, auf der Anderen unauffällig klingen. Und gleich bekomme ich das vertraute Gefühl, wenn uns die Worte fehlen, genau dann, wenn wir sie am meisten brauchen, genau da, wo mein Übersetzungskosmos entsteht.

 

Shane Anderson … Übersetzt

WHAT TRANSLATING POETRY FEELS LIKE

Am I an astronaut floating in space? Or ground control reporting to numbers gathered in an auditorium at home? At home? No, never at home. Maybe I’m the scientist anxiously wringing his hands together, hoping that his improvisation doesn’t explode. Or the rocket blistering beyond the sound barrier to carry people into the unknown. The helmet protecting the astronauts’ heads, these earthlings everyone collects on their shelves back at home? Uhh, maybe? Or maybe the protein bars that give life, sustenance. Pictures hidden in space suits of loved ones back home. No, never at home. I am a distant source of light. That’s dying or maybe just starting to form. A UFO. I can’t be explained with reason, so you’ll have to accept these rash metaphors, these approximations that sometimes explode. But be diplomatic whenever they go up in smoke. Calculations were made. Barriers were broken. Hands were wrung. Not everything can be taken into space and it’s hard to cope with the lack of gravity. Sometimes it has to be simulated. Sometimes it can’t be like it was before. Why not? Just trust me. Does the scientist agree? Communication was established then lost then I don’t really know. Hello? No answer. Hello? I think I’ve disappeared into a black hole. I’m on the other side of the singularity and it’s so beautiful, it’s like, it’s like, uhh, everything is like it was back at home. Everything is like it was back at home. Back at home? Is there another word for this in your language? Hello, ground control? Ground control, everything is like it was back at home it was like everything, please don’t explode.

Carla Imbrogno … Übersetzt

Mit dem Gedicht eins werden

Benennung und Begriffsbildung sind wesentlich für das Verständnis. Aber die Bedeutungen in der Sprache sind beweglich. Was wäre besser als ein Gedicht über den Kosmos – etwas so widersprüchlich Wissenschaftliches und Ungreifbares zugleich –, um die Bahnen, die Abdriften zu testen, die Sprache zulässt?

Die Dichtung versiegelt im Original Sinn, Klang und Wortlaut. Das ist der Grund, warum ein Gedicht nicht paraphrasiert werden kann. Wenn es nicht zusammengefasst, nicht nacherzählt werden kann, wie kann es dann übersetzt werden? Jemand übersetzt und ermöglicht das Missverständnis, stellt jegliche  Illusion von Gewissheit in Frage.

Man sagt, es gehe um das Überleben einer Form – die Übersetzung als Operation, um das Gedicht formal am Leben zu erhalten. Der Capcom, der Capsule Communicator – erzählt mir Dana Ranga – sitzt auf der Erde im Kontrollzentrum, ist Partner der Astronauten oder Kosmonauten im All. Er ist für die Lebenserhaltung im Weltraum zuständig. Mit ihm lässt sich alles besprechen, sowohl das Technische als auch das Psychologische und andere Dinge.

Im Gedicht steckt mehr als eine Form, finde ich, es lässt sich nicht so einfach abtasten. Es geht auch um mehr als Rhythmus, würde ich sagen, mehr als Musik. Eine Erzählung der sehr besonderen Art wird vermittelt. Geht es um Aura?! Wo im All endet das Gedicht?

Ich finde in manchen Essays Bestätigung für meine freie, bewusst aufständische Übersetzungspraxis. Und doch, die Theorie bestätigt mich nicht. Unbestätigt bleibt auch das Gedicht, immer bereit, sich dem Auge derjenigen anzupassen, die es zufällig lesen. Wie viele von uns sind in diesem Moment da und lesen zufällig ein (übersetztes) Gedicht? Tragen Sie sich hier ein.

Die Bedeutungen sind nicht fixiert im Gedicht, aber sie sind nicht zusammenhangslos. Zwischen den Vorgängen des Gedichts besteht eine innere Beziehung, und ein semantischer Acker wird dabei gedüngt. Eine falsche Vorstellung ist deswegen besser als keine Vorstellung, sage ich mir. Und plädiere für ein Erfahren durch Berührung und Derivat! Lassen wir das Reich des Zeichens implodieren! Übersetzen heißt neu erfinden, über das rationale Denken siegen, mit dem Gedicht eins werden, mit seinem Schweigen.

Kurt Beals … Übersetzt

Das Gedicht „Jemand…Übersetzt“ schildert die Beziehung zwischen dem Reisenden im Weltall und dem „Capcom“ („capsule communicator“) auf der Erde, der durch „Radioübertragungen“ „ein Missverständnis lösen“ kann − eine Beziehung, die mit der Übersetzung gleichgesetzt wird, und die Vertrauen mit Missverständnis verbindet. Vielleicht soll der Übersetzer, der diesen Text in eine neue Sprache überträgt, auch ein Diplomat sein, ein Filter? Vielleicht soll auch er ein Missverständnis lösen? Darf ihm die Autorin vertrauen?

Die Ökonomie eines Gedichts ist allerdings eine andere, als die einer Radioübertragung zwischen Raumschiff und Capcom. In diesem Fall setzt man auf Klarheit und Eindeutigkeit; in jenem auf Möglichkeit, Mehrdeutigkeit. So steht das Wort „Übersetzt“ am Ende, ganz allein aber großgeschrieben. Wie soll man dieses Wort lesen? Rein grammatikalisch gibt es mehrere Möglichkeiten: Handelt es sich hier um die 3. Person singular? Um ein Partizip Perfekt? Ist dieses Wort das Ende des letzten Satzes: „Weltall / und / Erde / [ü]bersetzt“? Der zweite Teil des Titels: „Jemand / [ü]bersetzt“? Soll man das Gedicht einmal semantisch/linear lesen, als Beschreibung der Beziehung zwischen Astronaut und Capcom, dann noch einmal (welt)räumlich, als bildliche Darstellung der gleichen Beziehung: „Jemand“, d.h. der Astronaut, schwebt ganz allein im Weltall oben, während der Capcom unten auf der Erde „[ü]bersetzt“? Die Zeilen „Weltall / und / Erde“ böten in dem Fall eine schöne Leiter, die man hinunterklettert.

Durch diese Überlegungen bin ich auf eine „Lösung“ gestoßen, die allerdings keine Missverständnisse auflöst, sondern genauso viele Lesarten (und womöglich auch Missverständnisse) zulässt wie das deutsche Original. Wie im Deutschen kann man auch im Englischen mehrere Verbindungen entdecken, etwa „Someone / In translation“ oder „outer space / and / the earth / In translation“. Auch an anderen Stellen habe ich durch Wortstellung und Auslassungen versucht, eine leichte Unsicherheit zu schaffen, sobald man versucht, diese Zeilen in vollständige Sätze aufzuteilen. So könnte man etwa die Zeile „he knows“ entweder mit den vorigen Zeilen („often an astronaut or cosmonaut he knows“) oder mit denen danach („he knows he’s a diplomant a filter“) verbinden. Insofern finde ich die Rolle des Übersetzers, ausgerechnet bei einem Gedicht wie diesem, ganz anders als die des Capcoms, der verständlicherweise auf Klarheit und Sicherheit zielt. Der Übersetzer versucht dagegen, Möglichkeiten aufzudecken in den produktiven Unklarheiten, die der Sprache innewohnen. Ob mir ein Astronaut vertrauen würde, sei dahingestellt.

 

Sulagna Mukhopadhyay … Übersetzt

Ist es Űbertragung oder Űbersetzung? Das ist die erste Frage, die mir in den Sinn kommt, wenn ich an Űbersetzung denke. Einen Text zu übersetzen ist für mich keine leichte Aufgabe. Beim Űbersetzen der beiden Gedichte Dana Rangas hatte ich Schwierigkeiten, insbesondere beim letzten Gedicht Jemand…. Diese beiden Gedichte von Dana Ranga brachten mir sofort die soziokulturelle Politik Osteuropas in den Sinn.

Ich habe schon vor längerer Zeit mit Gedichtübersetzungen begonnen, als ich in Kalkutta während des deutschen Festivals zum ersten Mal Kathrin Schmidt  traf. Sie las ihre Gedichte und mein Mann Raja und ich übersetzten zwei davon für eine bengalische Zeitung.

Seitdem habe ich mich stärker mit dem Űbersetzen auseinandergesetzt. Meiner Ansicht nach ist das Űbersetzen einer Geschichte um ein Vielfaches einfacher als Lyrikübersetzen. Ein Beispiel: Als ich einige Gedichte von Kathrin Schmidt übersetzte, hatte ich es schwer. Ich habe bewusst versucht, sie zu übersetzen, ohne Verlust an dem Ethos der Gedichte, der Kultur und dem gesellschaftspolitischen Hintergrund. Meiner Meinung nach kann ich mir beim Űbersetzen einer Geschichte bis zu einem gewissen Grad mehr Freiheit erlauben, damit ich den Leser∙innen meiner Kultur Freude am Buch verschaffen kann. Gewisse Dinge sind so typisch in einer Gesellschaft, die einfach nicht leicht zu übersetzen sind. Beim Übersetzen von Gedichten möchte ich weder Wörter filtern noch Diplomatin sein, wie Dana Ranga in ihrem Gedicht einen Kosmonauten beschreibt. Es gibt meinen Leser∙innen eine falsche Interpretation.

Bengalen haben eine Leidenschaft, Gedichte zu lesen und zu schreiben. Wir haben viele bedeutende Dichter∙innen wie Jibananda Das, Alokeranjan Dasgupta, und voran Rabindranath Tagore. Wir haben wie in Deutschland Poesiefestivals. Viele bengalische Dichter vergangener Jahre hatten Gedichte von Goethe, Hölderlin, Rilke übersetzt. Ich würde gerne mehr aus dem Deutschen ins Bengalische übersetzen.

Danke!

Sulagna Mukhopadhyay

 

Ton Naaijkens… Übersetzt

Einengung und Raum

Inwieweit sind die in Dana Rangas Cosmos! aufgeführten erwünschten Eigenschaften und Fähigkeiten für einen Kosmonauten auch die, die man am liebsten bei einem Übersetzer sieht? Empathie, Logisches Denken, Loyalität, führt sie auf, und mehr: sie spricht auch von ‘Raumgefühl’. Und ‘eine der wichtigsten Etappen / ist die Isolation’, später auch ‘Einengung’ genannt. Passt alles.

Aber wieviel Bewegungsfreiheit hat man beim Übersetzen? Viel und zugleich bitter wenig. Es gibt immer wieder Momente und Stellen, wo es hapert, wo man sich anständig festgeschnallt fühlt. Reibungslos geht es eben nicht. Immer bleibt etwas übrig, das Unbeherrschbare vom Übergang in eine andere Sprache, in einen anderen Menschen, in einen anderen Raum. Mit anderen Worten: etwas bleibt hängen im Filter.

Filter ist ein Schlüsselwort für mich, seit wir eine Übersetzerzeitschrift, die wir 1994 hier in den Niederlanden starteten, so genannt haben. ‘Übersetzung ist nicht neutral. Wo es einen Filter gibt, ist von totaler Lösung keine Rede. Es gibt Widerstand, Färbung, es gibt einen Rest,’ heißt es in unserem Programm. Programm und persönliche, physische Erfahrung.

An zwei Wörtern in Dana Rangas Gedicht ‘Jemand’ hakte ich mich also fest: an ‘Filter’ und ‘Übersetzt’. ‘Filter’ bleibt im Niederländischen dasselbe Wort (kein Problem), aber besorgte mir ein unermessliches Raum- und Zeitgefühl. Angenehm konfrontierend. ‘Übersetzt’ ist das, was einengte. Ist es ein Partizip, ein Imperativ oder gehört es als Singularform zum ‘Jemand’ im Titel? Ja, alles zugleich. Nur schreibt man im Niederländischen ‘vertaald’ dann jeweils anders (‘vertaal’, ‘vertaalt’). Was tun?

Man könnte ‘overgezet’ (beziehungsweise ‘zet over’) nehmen, so dass wie im Deutschen ein anderes Bild mitspielt, das vom einen Ufer zum anderen Gelangen, von der einen Welt in die andere Fahren. Da ist Raumgefühl gefragt. Die ‘Fähre: // sie setzt / Wundgelesenes über,’ heisst es bei Paul Celan, auch in Bezug aufs Übersetzen, in seinem Fall nicht nur von Shakepearesonnetten, sondern auch von Übertragungsprozessen, wie sie in der Liebe, in intermenschlicher Kommunikation, in der Empathie vorkommen.

Der Capcom, ob er jetzt Story Musgrave heisst oder Dana Ranga – oder einfach: jemand – ist derjenige, der vermittelt, der uns sowohl den Kosmos näherbringt als das so bedrohte, ökologisch empfindliche graugrüne Kügelchen, das wir Erde nennen.

Martina Fernández Polcuch … Übersetzt

Ein Gedicht kerbt sich bei jeder Lektüre immer tiefer ein. Wohin? In die Netzhaut, in das Trommelfell, in die Stimmbänder, in die Nervenzellen des Verstands, der Emotion und der Sinnlichkeit. Nicht nur jedes Wort, auch die Momente des Schweigens. Während ich nachdichtend schreibe, denke ich an die Möglichkeit, die Leere mit Wörtern und Schweigen zu füllen. Ich versuche, mein Schreiben in diese Kerben fließen zu lassen, ohne ihren Raum zu überfluten. Denn die Polysemie der Lyrik auszuloten heißt ja nicht, alles Ausgelotete in die Oberfläche der Sprache übertragen zu müssen. Was für einige Widerstand gegen eine Versuchung ist, ist für mich eine Erleichterung. Poesie übersetzen ist für mich auch, am richtigen Ort schweigen zu können. Diplomatisch? Vielleicht. Was die Erde poetisch macht, ist das sie umhüllende Schweigen des Weltalls.

Mir – jemandem – wird vertraut, obwohl ich menschlich – jemensch – bin. Mögliche Missverständnisse will ich nicht unbedingt lösen. Mein Gedicht will ein Gedicht des Gedichts sein und neue Kerben erzeugen, deren Vertrautheit mit den meinen erkennbar ist. Es soll weitergetragen werden, von anderen Körpern, die so die Spuren des Gedichts (des Gedichts) in sich tragen. Poesie übertragen ist dann auch, Gedichte über die Körper in die Welt zu tragen, zur Poetisierung der Welt beizutragen. Was die Welt poetisch macht, sind die eingehüllt reisenden Spuren der Gedichte in uns.

 

Yuji Nawata … Übersetzt

Ich bin Germanist und Komparatist. Als solcher übertrage ich Gedichte ins Japanische. Aber auch als genießender Leser übersetze ich Lyrik. Denn ich lese ein Gedicht am intensivsten, wenn ich es übersetze.

Wenn ich betrachte, wie in der Geschichte der Menschheit verschiedenste Sprachen unterschiedlichste Gedichte hervorbrachten und -bringen, meine ich mit Hölderlin: Wir sind ein Gesang. Ich möchte etwas dazu beitragen, diesen Gesang mannigfaltiger und reicher zu machen. Ein Mittel dazu ist für mich die Übersetzung.

Ich würde aber auch den Gesang der Menschheit „filtern“, d.h. eine Anthologie daraus machen, herausgeben oder sogar im Museum ausstellen. Es ist nur ein Traum; alleine schaffe ich es auf keinen Fall. Wäre es aber nicht wundervoll, wenn man Gedichte aus allerlei Sprachen, Zeiten und Gegenden im Original oder in der Übersetzung im Buch oder im Museum lesen und eine Weltliteraturgeschichte erleben könnte?

Der Gesang von Vögeln, Tieren oder Insekten unterscheidet sich nicht grundlegend von dem des Menschen. So sahen es zumindest einige Dicher∙innen: In Goethes „Mailied“ steht der Vogelgesang auf der gleichen Ebene wie das Menschenlied. In den Vorworten von „Kokin wakashû“, der Anthologie japanischer Lyrik aus dem frühen 10. Jahrhundert, liest man, dass alle Lebewesen, nicht nur Menschen, sondern auch Vögel, Frösche und Zikaden dichten. Wäre es nicht schön, wenn Liebeslieder von Menschen, Vögeln, Fröschen und Zikaden aus der ganzen Welt in Schrift und Tonaufnahmen, im Original und in Übersetzung zusammengestellt werden könnten? Und auch Videoaufnahmen des Glimmens der Leuchtkäfer als visuelle Poesie? Wenn wir in einer Ausstellung solche „Dichtungen“ lesen, hören und sehen würden, dann könnten wir Homo sapiens bestimmt „etwas über uns“, „über das, was es mit diesem Universum auf sich hat“ erfahren, „über unseren Platz in dieser Ordnung und darüber, was es bedeutet ein Mensch zu sein.“

 

Ausschnitt aus: Katsukawa, Shunshô: Nishiki hyakunin isshu azumaori. Edo (heutiges Tokyo) 1775. Aus dem Besitz der National Diet Library von Japan. (Quelle)

Sie sehen ein Bild des Dichters Ki no Tsurayuki (ca. 870 – ca. 945), der den ursprünglich chinesischen Gedanken des interspezifischen, universalen Gesangs in das Vorwort der oben genannten japanischen Anthologie übernahm. In der oberen Hälfte liest man den Namen und ein Gedicht von Tsurayuki, in der unteren sieht man, wie sich der Maler Katsukawa Shunshô (1726-1792) den Dichter vorstellte.

Nawata

Gulnoz Nabieva … Übersetzt

Ich übersetze sehr gern Lyrik, weil die Hürden, die genommen werden müssen, viel höher und der Genuss nach dem „Übersetzen“ dieser Hürden viel intensiver ist als bei Prosa. Mit ihren außergewöhnlichen Bildern und Wortschöpfungen ist die deutsche Lyrik nicht einfach in andere Sprachen zu übertragen, aber eben diese Tatsache macht sie für mich spannend. Man besteigt einen hohen Berg und erkundet die Landschaft mit allen Sinnen neu, zunächst für sich selbst, und dann versucht man die neuen Erkenntnisse in einen anderen Berg hinaufzutragen. Nicht immer stehen Worte parat, um neue Begriffe und Empfindungen zu verkapseln, binden, tragen, klingeln zu lassen.  Die deutsche Gegenwartslyrik ist mehrsprachig, transkontinental, umweltbewusst, historisch orientiert. Das ist ein ständiger Weiterbildungsprozess, sie zu lesen, hinter die Worte zu kommen und sie zu interpretieren.  Z.B beim Übersetzen von Anja Kampmanns „der hund ist immer hungrig“ erfahre ich darüber, dass im kanadischen Bundesstaat Alberta das zweitgrößte Frackinggebiet der Welt ist, dass das Trinkwasser durch Chemikalien belastet ist. Das angrenzende Six Nations Reservat ist vom Zugang zu Trinkwasser abgeschnitten, obwohl Nestlé täglich Millionen Liter Wasser aus diesem Gebiet fördert. Durch die Art Fiktion von Daniela Seel erfahre ich mehr über belastende Fakten für die Umwelt. Die Honigprotokolle von Monika Rinck erweitern und vergrößern meine innere Welt. Sie machen mich gierig, der Gleichgültigkeit zu entfliehen und in mir wächst der Wunsch, diese Gedichte in meine Muttersprache zu schmuggeln. Der unvergessliche Text, den ich neulich übersetzt habe, ist das folgende Gedicht von Monika Rink:

              AUSWILDERUNG DES ICH

Festlicher Gesang für all das, was das Ich 2014 begriffen
und in diesem Moment für immer missverstanden hat.
Selbstverzehrendes Bewusstsein, burleske Camouflage
vor sich selbst! Ein Bewusstsein, dass es besser könnte,
aber dazu jemand anderem gehören müsste. Zut (alors).

Das Ich stand im Funkenregen zenbuddhistischer widersinnig
wirksamer Angst, die vor allem aus Funken über Palmen bestand.
Und Pulverwolken, Currypulver, Feuerwerksraketen. Hat das Ich
den Anderen domestiziert? Darf er oder sie sich nicht mehr bewegen?
Hat das Ich gar etwas verinnerlicht, was eigentlich nach außen gehört?

Das Ich spricht von seinem Inneren. Und alles andere sei außen.
Aber das stimmt so ja nicht. Nachts um drei im Netz zum Beispiel.
Delusional self loathing, digital harm, Verschmelzungskatastrophe.
(Ich habe einen Feind und ich bin dieser Feind. Oder: Das Ich ist er.)
Bedenke: Der rückwärtige Sog der sich hinter dir erhebenden Welle.

Todeskulte, die sich maskieren als lebenstüchtige Akteure,
als Aktionäre, in Form einer metonymischen Umschließung
des Opfers durch seinen Mörder. Kranichtrophäen, Selbstverräter.
Hingegen: das liebe, schnuppernde, etwas verloren die Fläche
begehende, in neue Scheue, ins Fremdeln hineinflüchtende Ich.

Alles, was du nicht sein kannst, der unmögliche Neid,
doch Neid gleichwohl, du armes Ich. Wünschst du dir das,
was sich selber vernichtet, sobald du es hast, das Ich-Ideal,
zugleich mit dem Wunsch und dem Wunschbild von dir,
und dir, die du das gar nicht genießen kann. Die Geister
derer, die du vernichtetest, sind es viele? Nicht so viele.

Hier ist das Gedicht in usbekischer Sprache:

“Men”ning yovvoyilashuvi
Borliqni tarannum etgan qo‘shiqlarni Men
2014 yildan buyon yanglish etadi talqin
O‘zni barbot etuvchi Ong, yorqin kamuflyaj,
o‘zni o‘zdan yashirmoq uchun! Nahot komillikka
erishmoq uchun o‘zgaga egish zarurdir bo‘yin? Jin ursin!

Budda kabi sokin, ta’sirchan, o‘jar qo‘rquvdan
sachrar uchqun yomg‘iri. Men uzra yog‘ilar,
tutun, ziravorlar, mushaklar. Nahotki, Men
O‘zgani xonakilashtirgan? Nahot endi unga yot
harakat? Zohiriy narsalar botinda, hayhot?

Ichindagidan so‘zlaydi Men, botindagilar unga
 yot, biroq bu haqiqat emas. Tungi soat uchda. Internetda.
Avj olar o‘ziga nisbatan nafrat.Raqamli zahmlar. Qalashib ketadi
fojealar. Mening dushmanim bor, u o‘zim yohud Men
erur ichimdagi Yov. Fikr qil: past, loyqa oqim
Ortingda senga qasd qilajak to‘lqin

O‘lim sanamlari hayotda ilg‘or aktyorlar, faollar qiyofasida
Yutib yuborajak qurbonlarini manfur qotillar, o‘laksaxo‘rlar
Hattoki o‘zini sotgan sotqinlar. Ular qarshisida: sodda, mehribon
Dunyo tegrasida jonsarak yurgan, o‘zin hayo, nomus pardalarin
Ortida saqlagan Men.

Barcha sen erisha olmas narsalar hasadni qiladi paydo
Hasad changalida qolgan sho‘rlik Men. Orzuinga erishganing on
Barbod bo‘lar bari nogahon, o‘sha komil Men, uning orzu-armonlari ham
Bunda topa olmassan orom. Sen o‘ldirgan ruhlar qaerda? Ular ko‘p emas.

 

Micaela van Muylem … Übersetzt

Die Tätigkeit des Übersetzens wird oft mit einer Überquerung von Gewässer verglichen: mit dem (Über)tragen von Wörtern, Sätzen, Sinnen von einem Ufer zu einem anderen. Vielleicht haben daher die Raumfahrer von Dana Ranga bei mir sofort das Bild eines Tauchers hervorgerufen. (Ein Wasser wie ein (J)univers(um), ein See wie der Wannsee vielleicht…?). Der Aufstieg, die Fahrt ins All ist so gleichzeitig ein Sprung in die Tiefe des Wassers, genauso leicht, genauso schwer, vielleicht. Genauso spannend, bestimmt. Beim Übersetzen (von Lyrik) tauchen wir in fremde Texte ein, sinken, versinken, vertiefen uns in eine fremde, weil andere, Sprache, in eine fremde, noch unbekannte Welt. Mit der Taucher- oder Lesebrille ausgerüstet orientieren wir uns allmählich in diesem Universum und machen uns dann sofort auf die Suche (Übersetzer·innen sind auch ständige Schatzgräber… ewig schaufeln wir im Wasser, im Schlamm hin und her, oft, ohne genau zu wissen, was wir suchen). Wir finden, entdecken, nehmen mit, verwerfen, schleppen Steine und andere Fundstücke an, werfen sie zurück ins Wasser. Freuen uns, verzweifeln auch oft. Auf dem Weg nach oben, an die Oberfläche, verlieren wir nämlich auch jede Menge, tauchen erneut unter, tauchen ein, erblicken Neues, stoßen auf Unbekanntes, in der eigenen Sprache Ungenanntes, Unnennbares, versuchen dem noch Namenlosen trotzdem eine neue Bezeichnung zu geben. Jedes Mal, dass wir untertauchen, entdecken wir etwas, was wir davor nicht gesehen haben, erforschen, erfinden, vergleichen weiter, unaufhaltsam. Alles mit der Hoffnung, dann irgendwo, ganz unten oder ganz oben, schwer zu sagen, so ohne Schwerkraft, im Wasser (fast) wie im All, endlich den Blick des Anderen (in uns) zu begegnen.

 

Ali Abdollahi … Übersetzt

Das Poesie-Übertragen ist für mich ein einmaliges und einzigartiges Erlebnis, denn jedes Gedicht geschieht einmalig in und mit der Sprache: ein Zufall und Abenteuer zugleich. Diese beiden haben ihre eigenen Formen, die sich beim Nacherzählen bzw. Nachdichten völlig verändern. Gerade daher müssen die Maßnahmen des Übersetzers jedes Mal unterschiedlich sein, einmalig, einzig, oder gar individuell. Als ein Germanist und Übersetzer der Lyrik einerseits, und ein Dichter und Autor anderseits, findet in meinem Kopf eine ständige Auseinandersetzung statt: der Germanist-Übersetzer befiehlt, ein Gedicht müsste unbedingt genau, treu und dem Original gebunden übertragen werden; der Dichter-Übersetzer fragt; na ja, aber wo bleiben die Lust, der Genuss und das Gefallen des Lesers? In einer so genau anfertigten Übersetzung, die sehr akademisch klingt, bleibt für den Leser keinen Platz. Inzwischen taucht der Dichter/Übersetzer auf, mit einem Beutel voll von Reimen und Rhythmen, Alliterationen, Sprachspielen und Tönen. Die erste Rohübersetzung baut er ernstlich auf. Nun steht uns ein neues Abenteuer bzw. ein neuer Zufall zur Verfügung. Dadurch wird das Ganze in ein goldenes Gleichgewicht gebracht, das eine Mischung wäre, aus der äußersten Genauigkeit und neuen Klängen in der Zielsprache, eine neue Ästhetik, stammend einerseits aus dem Original, anderseits aus der neuen Sprachwelt, in der sie geboren ist. Das Versöhnen dieser Beiden bringt dem Publikum das Wesen des Gedichts näher.

Dana Ranga schreibt von einer neuen Welt, in der bei uns Iranern, ein weltbekannter Meister lebt: Omar Khayyam:

 „Für eine magische Laterne ist diese ganze Welt zu halten,
In welcher wir voll Schwindel leben.
Die Sonne hängt darin als Lampe, die Bilder aber und Gestallten
 Sind wir, die dran vorüberschweben.“[1] 

Dieser Dichter-Astrolog-Philosoph überliefert eine klassische Tradition der Weltall-Poesie im Persischen, die bei Rumi sehr − aber anders − entwickelt ist. Diese enthält eine mysteriöse Tendenz zur Deutung der Welt, in der der Mensch eine Hauptrolle spielt. Rangas Gedichte sind aber anders, eine postmodern-mysteriöse Entdeckung aus dem Kosmos in der Zeit der Hyper-Technologie. Das Ergebnis der beiden klingt aber erstaunlicherweise gleich: Jede Erforschung des Weltalls, ohne die des Geistes, wäre unvollkommen.

Bei Die Reise ins All, kann mir die obengenannte Tradition beim Übersetzen außer Thematisches auch wörtlich viele Synonyme zur Verfügung stellen und somit zufällige Reime, die dem Gedicht einen neuen Ton geben und neue ästhetische Werte herstellen können. Bei dem Gedicht, jemand… handelt es sich um die Übertragung einer Struktur und Leistung in einer anderen Sprache. Der Übersetzer fungiert als ein Filter, Kosmonaut, ein Diplomat und einer, der ein Missverständnis löst, oder es verursacht! Ja, verursacht, weil die Sprache zugleich ein Mittel der Verständigung und eine Ursache des Missverständnisses sei, der Übersetzer als jener Verbrecher, der große Leistungen hervorbringt, ein Verdienst, und neue ästhetische Mehrwerte produziert. Auch ein Akrobat, der auf dem Seil, gespannt über den Abgrund, sein Gleichgewicht halten muss.

Die Wörter besitzen in sich eine Urgeschichte und somit eine Geschichtlichkeit, die in manchen Dingen verkörpert sind: eine Landschaft, eine Farbe, ein Ziegenglöckchen! Im Bild sitzt ein Terra-Cosmonaut! vor dem Computer, oben steht spähend das verrostete Glöckchen, aus der längst ausgestorbenen Schafhorde seines Vaters. Es klingt in ihm immer eine Historie, die die Sprache mit all ihren reichen Wörtern besetzt.

[1] Quelle: https://beruhmte-zitate.de/zitate/135141-omar-khayyam-fur-eine-magische-laterne-ist-diese-ganze-welt-zu/ auch: „Die Gestirne haben durch mein Sein hienieden nichts gewonnen/ihrem Glanz wird durch meinen Tod nichts genommen/ und, bei meinen Ohren, noch nie vermochte wer zu sagen/ warum ich gehen muss und wozu man mich kommen hieß.“

Annie Rutherford … Übersetzt

Jemand

dem sie vertrauen   

Man hat oft als Übersetzerin die Angst, dass andere einem nicht  vertrauen. Autoren. Kritikerinnen. Leser. Zum Teil, vielleicht, weil man als Übersetzerin immer abwiegen muss. Man fragt sich ständig, wem man treu ist – und dann muss man Kompromisse eingehen. Man ist eben

ein Diplomat.

Eine kulturelle Botschaftlerin – ja ja. Aber ein Diplomat auch (und vielleicht vor allem) zwischen Reim und Wortspiel, Metrum und Humor, Sprichwort und Bild. Übersetzt man den Bären, der tanzt, oder den Bären, den man jemandem aufbindet, oder die Bären, die auch Beeren sein könnten?

Die Angst davor, nicht vertraut zu sein, hat mit der Sorge zu tun, dass andere denken, Kompromisse seien Fehler, oder dass sie das Übersetzen als

ein Filter, 

einen Schleier missachten, den es wegzudenken gilt. „Man würde doch gar nicht wissen, dass es eine Übersetzung ist“ soll ja ein Kompliment sein. hashtagnofilter

                                                Man muss aber die Angst wegdenken, um übersetzen zu können. Ansonsten bleibt das weiße Blatt leer. Man braucht eben Mut, Kompromisse zu finden,

Missverständnisse zu lösen,

zwischen

Weltall

und

Erde

zu schweben.

Abdulkadir Musa … Übersetzt

Der Übersetzungsprozess ist ähnlich wie das Wiedernähen, d.h. das Nähen eines Kleidungsstücks aus alten Stoffen, die vollständig auseinandergenommen und getrennt werden, damit der Schneider sie in Form eines neuen Kleidungsstücks, das dem Original gleicht, neu und wiedernähen kann. Dieser komplexe Prozess findet gleichzeitig und in mehreren Schritten statt. Der Erste ist die Dekonstruktion des Kleides oder des Originaltextes. Um diesen Schritt durchzuführen, beginnt die Suche nach einem Weg, als Handwerker die Teile des Originalkleidungsstücks mit geeigneten Handwerkswerkzeugen zu trennen, ohne dass es zu irgendwelchen Schäden am Stoffmaterial kommt, und auch all das Nähzubehör zu bewahren, das eine große ästhetische Rolle spielt. Es werden die Fäden, die Sätze, die Wörter getrennt und gezogen, um sie zu poetischen Bildern zu verbinden. Nachdem der Demontageprozess abgeschlossen ist, beginnt die zweite Phase, in der versucht wird, die Stoffteile als Schnittmuster, die auf dem Nähmaschinentisch verstreut sind, zu detaillieren und die Geeigneten auszuwählen. Zudem wird über Maß und das Nähzeug entschieden, um die Dekoration, die sich auf dem Kleid befindet, wieder auf den neuen, imaginären Text zu nähen. Nach Erreichung des entsprechenden Modells beginnt anhand des aus dem Originaltext erstellten Rahmens die Auswahl der notwendigen und neuen Materialien. Es wird ein neues Schema vorbereitet, um die Übersetzung zu vervollständigen. Dies geschieht durch die Auswahl von Synonymen und dadurch, diese beim Bau der entsprechenden Sätze zu verwenden, um sie harmonisch im Raum des Textes zu zerstreuen. Bei all dem dürfen wir nie vergessen, all dies zu wiederholen, um zu versuchen, ein neues Kleidungsstück mit originalgetreuen Merkmalen zu erschaffen, das dabei ein unabhängiges Werk bleibt, das sich nicht von den Spuren des Originaltextes distanziert. Das Wichtigste ist das Vernähen, die Fixierung des gesamtästhetischen Zusatzmaterials an den entsprechenden Stellen des Textes. Was die Übersetzung von den Gedichten der Dichterin Dana Ranga anbelangt, so war es als Übersetzer zunächst notwendig, eine Vorstellungskraft vorzubereiten, die die Details ihres Cosmos erreicht. Darüber hinaus das Weltall zu dekonstruieren, um mit Naturellen, linguistischen Werkzeugen einen neuen All-Text zu erreichen. Wie kann man all das wieder nähen!

Subroto Saha … Übersetzt

Le poème est ascension furieuse; la poésie, le jeu des berges arides.
– René Char

 Das Gedicht ist ungestümes Hinauf ; die Dichtung – das Spiel auf der
trockenen Böschung der Ufer.
– Paul Celan

Dieses Zitat ist mir für die Lyrikübersetzung von großer Bedeutung. »M’illumino/ d’immenso«, das kürzeste europäische Gedicht des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Titel »Mattina« des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti, übersetzte Ingeborg Bachmann »Ich erleuchte mich / durch Unermessliches” und die Überschrift mit »Morgen«. Im Gedichtband heißt es: Übertragung. Da frage ich: Wie unterscheiden sich Übertragung und Übersetzung? Kann jemand, der übersetzt, sich selbst als Diplomat oder auch Filter betrachten?

Auch Celan übersetzte Ungarettis Gedichte. Auch dort: Übertragung. Nimmt man das Gedicht »Finale«, das beide übersetzten, so sieht man, dass sich beide Versionen bis in die Satzzeichen hinein voneinander unterscheiden. Spricht dieses Eigene für eine neue Übertragung und somit für die Freiheit des Künstlers? Spannend wäre doch, was Celan, der Gedichte aus sieben Sprachen übersetzte, zum Dilomat-, Filter- und Quellensein gesagt hätte. In der Tat schreibt er: »Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber.« Ich möchte alles tun, um dieses Gegenüber zu erreichen. Aber ich kann und werde mich weder mit dem Diplomaten noch mit dem Filter identifizieren. Da müsste ich mich von Beginn an wie ein Automat beschränken und auf manche feste Dinge einlassen, indem ich sie von Fall zu Fall filtern und reduzieren würde. Da würde ich nichts über das wahre Andere und über das wahre »Wir« »erfahren«. Warum fliege ich dann ins Poesie-»Universum«? Pablo Neruda war Diplomat in Myanmar und Sri Lanka, Octavio Paz war es in meinem Land Indien, wo die Tradition der Lyrikübersetzung in den meisten Sprachen unterschiedlich reich ist. Für Dichtung wussten sie, womit sie es dort zu tun hatten. Paz, der »Ladera Este« verfasste und Gedichte aus sechs Sprachen übersetzte, beschäftigte sich nämlich mit buddhistischen Schriften. Das war für ihn eine »Reise des Geistes«.

Das Gedicht »Die Reise ins All« von Dana Ranga erinnert mich interessanterweise an zwei Anfangszeilen eines Liedtextes des bengalischen Dichters Rabindranath Tagore, den er 1908 schrieb und vertonte. Ich übersetze: »Im Universum, im Weltraum, in der Ewigkeit / Wozu reise ich der Mensch allein im Wunder.« Rangas Gedicht stellt dagegen im Raumfahrtzeitalter eine uralte Frage: welchen Platz im All hat der Mensch? Und es bringt ihn zum Nachdenken, was ihn ausmacht, wenn er dabei über sich nichts erfährt, geschweige denn davon, dass er sich während der Pandemie in Isolation befinden muss und nicht reisen kann. Man könnte fragen, wie geht sie weiter, die »Reise des Geistes«?

Noch kurz zur Übersetzungsthematik: Aus der Dreisatz-Struktur muss ich nichts herausfiltern. Nur das Wort »Ordnung« schafft Ambivalenz. Da eine Präposition im Bengalischen immer nach Substantiv und Angabe kommt, benötige ich eine Übereinstimmung aller Elemente in der Reihenfolge mit Klang und Rhythmus. Was bin ich nun, wenn ich es einordne? Das Gedicht »Jemand Übersetzt« benennt, was »der« ist. Ich denke, ich bin ein Spiegelträger.

Es gelingt aber nicht immer. Zum Beispiel geschieht es einmal mit »Giersch«. Jan Wagner erklärte es mir. Aber in meiner Sprache gibt es das nicht, was er genau meint. Keine »Radioübertragung« hilft. Eine Lösung besteht aus einer Entscheidung. Viele Dichter verwenden eigene, erfundene Wörter – historische, kulturelle, ironische Anspielungen und zahlreiche zeichenlose Sätze, die ich manchmal als besonders anspruchsvoll zu übertragen finde. Am Ende bleibt dann das Gefühl vom – wie Thomas Kling in Rollen schreibt – »…wort als versenkungs-, als/ verbrennungsstelle«.

Weitere Programmpunkte standen diesen Juni im Zeichen der Lyrikübersetzung. Eine herzliche Einladung zu einem kleinen lyrischen Parcours durch verschiedene TOLEDO-Formate:

Unser zweites Lyrikjournal ist online!

Die TOLEDO-Journale laden dazu ein, in den Erfahrungsraum des·r Übersetzenden einzutauchen und zu entdecken, was sich dort alles an Material rund um den übersetzten Text angereichert hat. Mit Steffen Popps Journal zu seinen Ben-Lerner-Übersetzungen wurde eine Lyrikreihe eingeweiht, die wir nun mit einem Journal von Nobert Hummelt fortsetzen.
Wie übersetzt man aus einer Sprache, die man kein bisschen versteht? Wieso greift man zu Reimen, obwohl das Original darauf verzichtet? Und wie schmecken Churchkhela? Norbert Hummelts Journal zur Übersetzung des Gedichtbandes „Das Kettenkarussell“ von Bela Chekurishvili nimmt uns mit auf eine persönliche und sinnlich-kulinarische Reise nach Georgien: „Die ganze Küche ist heute gut drauf. Nachdenken über das Nachdichten aus fremden Sprachen”. Das Journal erscheint zeitgleich zum Gedichtband im Verlag Das Wunderhorn und liefert uns viele Einblicke in die poetischen Traditionen Georgiens sowie Zutaten und Rezepte zum Nachdichten.

Zum Journal

In der Reihe „Berührungsängste“ nähern sich Übersetzer·innen den Sensibilitäten, die das Übersetzen mental, politisch oder ideologisch begleiten können. Sind wir auf dem Weg zu einem Sensitivity Translating? Und wie sieht das Lyrikübersetzen in Zeiten der Berührungsängste aus?

In ihrem Text „Ein neues Lied, ein besseres Lied- mit Gedichten übersetzten“ plädiert Judith Zander, Lyrikerin und Übersetzerin von Maya Angelou, für mehr sense & sensibility als sensitivity und beschreibt dabei, wie die aktuellen Debatten das dünne Eis des Lyrikübersetzens noch dünner werden lassen.

Zum TOLEDO TALKS

Zum Schluss möchten wir uns zu einem analogen JUNIVERS zurückwenden. – 2019 kamen alle Teilnehmenden zu einer kollektiven Übersetzungswerkstatt mit dem damaligen Peter-Huchel-Preisträger Thilo Krause und seiner Übersetzerin Roberta Gado zusammen. In ihrem Text „Drei parallele Narben“ erzählt uns Roberta Gado über die weitere Zusammenarbeit und ihre fremde Nähe zur Dichtung Thilo Krauses, der selber drei Sprachen und drei Ländern bewohnt. „Für Thilo Krause eröffnet das Gedicht den ‚betretbaren Raum zwischen Ich und Wir. […] Dort können wir uns begegnen, im Wissen um die Dinge, die uns trennen und jene, die uns verbinden‘ (Dankesrede zur Verleihung des Peter-Huchel-Preises 2019). Dieselbe Definition könnte von meiner Seite aus für die Übersetzung gelten“, schreibt Roberta Gado.

Roberta Gado

Drei parallele Narben

Von der Arbeit an Thilo Krauses italienischer Anthologie

M’illumino di meno.
Caterpillar, Sendung von Rai Radio 2

Upprätt, „Aufrecht“, ist ein Text von Tomas Tranströmer, der anscheinend auf Italienisch nie veröffentlicht wurde, ein dichter, auf dem ersten Blick kristallklarer Text. Ich habe ihn dank Thilo Krause entdeckt, der ihn mir einmal als Antwort auf eine meiner Tagesfragen schickte.

Das Ritual der Tagesfragen, die ich ihm per Telegram über die gesamte Dauer meiner Arbeit an seiner italienischen Anthologie Che si dice mentre tuona gesendet habe, ist aus einem einfachen Grund entstanden: So eng wir auch befreundet sein mögen, schämte ich mich um die vielen Fragen, die während der Übersetzung auftauchten, ich wusste weder wie noch wann ich sie alle stellen sollte, aber gleichzeitig konnte ich sie nicht erst sammeln und dann dem Autor gebündelt zum Schluss präsentieren, denn wenn ich mit einem Vers nichts assoziiere, wenn auf Italienisch noch eine Lücke statt einer Strophe steht, gelingt mir der Zaubertrick nicht, das Gedicht erwacht einfach nicht zum Leben. So habe ich mir gesagt: Eine Frage am Tag lässt er mir durchgehen. Tatsächlich beantwortete er sie nicht nur, sondern machte sie zum Anlass eines Austausches über dies und jenes und, falls für ein paar Tage keine Sprachnachricht kam, machte er sich Sorgen: Wo bleibt denn die Frage des Tages?

Am 09.03.2021 – 13:51 erzählte ich Thilo enttäuscht, dass ausgerechnet der Text Tranströmers, den er im Gedicht Hinterland zitiert und weswegen ich den großen Sammelband des schwedischen Dichters auf Italienisch bestellt hatte, darin fehlte. Das Buch war gegen Mittag per Post eingetroffen und ich hatte eine Stunde lang darin geblättert, bis ich aufgab. Als Trost schickte mir Thilo sofort aus seiner Bibliothek – Wunder des Homeoffice – ein Abbild des vollständigen Textes in der deutschen Übersetzung von Hanns Grössel, erzählte mir, wie er das schwedische Originalbändchen in einem kleinen Antiquariat in Simrishamn aufgestöbert hatte, suchte auch dieses heraus und half mir, die drei zitierten Zeilen auf Schwedisch ausfindig zu manchen… und so verwandelte sich eine fast langweilige bibliographische Recherche in ein Gespräch zwischen Leipzig und Zürich und dann in eine Lektüre, die mich tief berührte: Es gibt keine schönere Arbeit für mich. Mein Bauchgefühl sagte mir seit Tagen, dass dieser Text von Tranströmer irgendwie wesentlich war, und überraschenderweise entdeckte ich darin mit ein wenig Fantasie ein sinnbildliches Porträt von Thilo. Ich zitiere hier nur die Schlusspassage auf Deutsch, so wie sie für mich abfotografiert wurde:

„Der Winter war schwer, aber jetzt ist Sommer, und der Boden will uns aufrecht haben. Frei, aber achtsam, wie wenn man in einem schmalen Boot steht. Eine Erinnerung aus Afrika taucht auf: am Ufer des Schari, viele Boote, eine sehr freundliche Stimmung, die fast blauschwarzen Menschen mit drei parallelen Narben auf jeder Wange (der SARA-Stamm). Ich bin willkommen an Bord – ein Kanu aus dunklem Holz. Es ist erstaunlich wackelig, auch wenn ich mich hinhocke. Ein Balanceakt. Wenn das Herz links sitzt, muss man den Kopf ein Stück nach rechts lehnen, nichts in den Taschen, keine großen Gesten, jegliche Rhetorik muß unterbleiben. Genau das: die Rhetorik ist unmöglich hier. Das Kanu gleitet hinaus aufs Wasser.“

Wie so viele Menschen, die in der DDR geboren und sozialisiert wurden, ist auch der Dresdner Thilo Krause gegen jeden rhetorischen Sprachgebrauch oder gar Propaganda allergisch und gegen große Systeme allgemein misstrauisch [→ Systeme]. Seine poetische Geste besteht eher im alltäglichen Dialog mit sich selbst, nichts in den Taschen und das Herz dunkel und pochend im Verborgenen [→ Hinterland, Geschichte], im Aufzeigen seiner intimen Bindungen, ohne sie zu verraten [→ Zürich, um Null; Giardino di Boboli u.v.m.], im Finden einer Form für die kostbarste Materie, die er schon seit der frühen Kindheit beschützen musste, Enkel und Sohn von Generationen, die im Krieg traumatisiert und von einem inzwischen erschöpften Staat erstickt und manipuliert wurden [→ 1986; Wo soll ich fliehen hin?]. Mit Oma eher verbündet als von ihr verstanden und vom Opa beschimpft [→ Für weit der einzige Ort] bastelte sich der kleine Thilo eine Welt zurecht [→ Tapete], reiste durch die Zeit [→ Nachgeborener], versteckte sich in verlassenen Orten und spielte auf sonderbaren Geländen à la Wolfgang Hilbig, die die rätselhaften Spuren einer jungen, aber schon bröckelnden Vergangenheit trugen und unheimlich, schwer zu entziffern auf ein Kind wirkten [→ Nicht im Amselgetön; Meine Elbe, deine Elbe; Geschichte].

Die sächsischen Landschaften und Spracheinfärbungen sind logischerweise für die italienischen Leser·innen von Thilo Krause auch nicht einfach zu erkennen, sie werden instinktiv eher – wie so oft – mit vertrauten Erinnerungen aus der eigenen Kindheit verknüpft. Die Übersetzung deutet sie zwar an, kann sie aber nicht gänzlich wiedergeben: Der Autor greift z. B. hier und da zu ostdeutsch-konnotierten Begriffen wie Plaste [→ Sardische Notizen, VI] oder Zone [→ Zone], die von der deutschen Leserschaft als solche identifiziert werden können, aber auf Italienisch nur durch eine Abweichung von der Norm markiert (plasticume) oder trotz der Knappheit des Verses leicht erklärend übersetzt (Zona est) werden können. Thilo Krause ruft typische Bilder und Gerüche hervor, wie den „von […] Feinmechaniköl und Desinfektion“ [→ Wo soll ich fliehen hin?], erinnert sich an Omas Radio, das exotische Namen inzwischen verschwundener Radiosender voreingestellt trug [→ Nachgeborener], erwähnt das eiskalte, noch in den Achtzigern in der DDR weit verbreitete Etagenklo [→ Gedicht], die aus Betonfertigteilen zusammengestellten Zementstraßen [→ Nicht im Amselgetön] und vor allem die in Blöcke und Viertel eingeteilten Plattenbauten.

Dieser letzte Fall ist typisch für die Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe, die die Übersetzung vollzieht; sie wird bei der Lyrik noch heikler, indem der Kontext oft nur angedeutet ist und die Verse keinen Raum für Digressionen bieten. Hätte ich „Plattenbauten“ mit dem   konventionellen Begriff prefabbricati übersetzt, würde die italienische Leserschaft sie mit den zweckmäßigen Fertigbauhallen identifizieren, wie sie in den Industriegebieten am Stadtrand sowohl im zeitgenössischen Deutschland als auch sonst in vielen Vororten der Welt zu sehen sind. Und man hätte vor allem auf die historischen und geographischen Bezüge gänzlich verzichtet, denn in Ostdeutschland hat natürlich die Platte eine ganz bestimmte, wenngleich zeitlich leicht changierende Färbung. In den engen Grenzen des Verses habe ich also von Fall zu Fall versucht, gleichzeitig Konzept und Erscheinungsbild annähernd wiederzugeben und mich für z.T. unterschiedliche Lösungen entschieden: In Systeme wird die Schule als „Schaltstation des Plattenbauviertels. / Zugiger Block aus schlechtem Glas und Beton“ beschrieben. In der Übersetzung („Centro di controllo delle case popolari. / Blocco spiccio di cattivo vetro e cemento“) habe ich auf die in Italien gängige Bezeichnung für billige soziale Wohnungsbauten zurückgegriffen (case popolari, wortwörtlich wiederum „Häuser des Volkes); fürBlock“ habe ich statt des klassischen Äquivalents isolato doch lieber den sinnbildlichen blocco gewählt, der auch visuell den Gebäudekomplex als schnörkellosen Würfel abbildet, die Idee der Schaltstation (blocco di comando) unterstützt und dazu sehr entfernt an den italienischen Festbegriff für Ostblock (blocco sovietico) erinnert. Hingegen habe ich beispielsweise die Plattenbauten von Leupoldishain („Es gibt sie in Hainen / es gibt sie im Schatten / der Plattenbauten. Leupoldishain. / Die Russen wuschen Uran aus der Erde / laugten sich tief hinab / aber oben harrten sie aus: Sandföhren“ → Nicht im Amselgetön) tatsächlich mit prefabbricati übersetzt, um ihrer Natur von Zweckbauten besser gerecht zu werden: „Se ne stanno in boschetti / se ne stanno nell’ombra / dei prefabbricati. Leupoldishain. / I Russi hanno lavato l’uranio dal suolo / sono percolati a fondo / ma i pini delle sabbie, sopra, hanno resistito“.

Ab und an tauchen zudem in den Gedichten typische Gewohnheiten der ostdeutschen Mangelwirtschaft auf, wie das Anlegen von Vorräten, die Eigenproduktion und Konservierung [→ Vorrat], die noch einige Jahre nach der Wende von der älteren Bevölkerung nicht abgelegt wurden und von der italienischen Leserschaft mit verbliebenen Gewohnheiten der dortigen Agrargesellschaft verwechselt werden können. Es ist prinzipiell so, dass einige Details dem italienischen Publikum nicht an sich fremd sind, sondern eher falsch gedeutet werden können, beispielsweise durch die eigenartige, systembedingte „Zeitverschiebung“, die in der DDR und in den Wendejahren im Osten zu erleben war und sich z.B. durch Kohleofen und Treppenklo zeigte.

Wiederum tauchen an prominenten Stellen von Thilos Gedichten einige italienische Bezüge auf, die viel fremder auf die deutschsprachige als auf die italienische Leserschaft wirken, wie etwa verschiedene Zitate des Nobelpreisträgers Eugenio Montale, dessen Gedicht Die Zitronen den Band Was wir reden, wenn es gewittert sogar eröffnet, aber auch der bekannteste Vers aus dem gleichnamigen Gedicht von Salvatore Quasimodo Ed è subito sera, „Und schon ist es Abend“. In diesen Fällen war es also nicht die Distanz, sondern die starke, auf Italienisch schwer zu dosierende Nähe zu Texten der großen italienischen Meister, die in der Übersetzung eines deutschsprachigen Autors sich verwirrend bis irritierend hätte auswirken können und ich darum den Impuls hatte, leicht nachzujustieren: Die meisten dieser Zitate haben nämlich in Italien einen abgegriffenen Touch von Allgemeinplätzen, den sie auf Deutsch keinesfalls vermitteln. Ich befand mich also in einer unangenehmen Lage, als ich beschloss (06.05.2021 – 15:30), dem Autor meine Zweifel darüber zu schildern, vor allem weil mir bewusst war, dass es in der modernen bis zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik solche Allgemeinplätze kaum gibt: Man muss die Zeit deutlich zurückdrehen, um Verse zu finden, die fast jede·r kennt, vielleicht mit der (eigentlich nicht  so recht vergleichbaren) Ausnahme von „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Daraus ist ein ehrlicher und konstruktiver Dialog über die Unterschiede der Wahrnehmung in beiden Ländern entstanden. Wir haben gemeinsam entschieden, in der Übersetzung vom Gedicht den Anfangsverweis auf Quasimodo zwar beizubehalten („ispirata a Salvatore Quasimodo“), aber kein direktes Zitat zu setzen („Ed è subito sera“), denn allein der Bezug des Schlussverses „Schon war es Abend“ ist für die Italiener·innen unverkennbar. Da bereits der Autor einen Unterschied zu Quasimodos Vers einführt („Schon war es Abend“, statt „ist“), habe ich in der Übersetzung diesen Unterschied leicht zugunsten der Metrik verstärkt („Ed era già sera“); „subito“ funktioniert sowieso in der Vergangenheit nicht so gut wie im Präsens, ich hätte die Gleichung unnötig forciert und ich bin mir sicher, dass Quasimodo, selbst Lyrikübersetzer, die Markierung der Distanz, die die doppelte Übertragung unweigerlich mit sich trägt, geschätzt hätte; schon auf Deutsch sind selbstverständlich einige Übersetzungsvarianten des italienischen Originals zu verzeichnen.

Stellte man sich dabei eine hochliterarische Diskussion vor, irrte man sich allerdings. Den Höhepunkt unserer Erkenntnisse zeichnete nämlich die geniale Umdichtung des kürzesten und berühmtesten Gedichtes von Giuseppe Ungaretti M’illumino d’immenso (1917, hier von mir zum Verständigungszweck mit: „Ich erleuchte mich / immens“ ausdrücklich falsch und schlecht übersetzt) in M’illumino di meno (so etwas wie: „Ich erleuchte (mich) / weniger“) für die gleichnamige Energiesparinitiative der Radiosendung Caterpillar, die jahrelang – nicht zuletzt wegen ihres Namens – in Italien sehr populär war. So ein Beispiel der Lebendigkeit der italienischen Lyrik konnte einen Ingenieur des Zürcher Elektrizitätswerks wie Thilo Krause – gleich mehr dazu – nur begeistern, aber leider konnte er nichts besseres als die weniger erbaulichen Umdichtungen des Erlkönig finden, um sich zu revanchieren: Jahr 1782, es untermauerte also unsere These der fehlenden Korrespondenz.

Gerade durch Gespräche dieser Art konnte mich Thilo auch auf bestimmte deutsche Begriffe seiner Gedichte aufmerksam machen, die von Montale stammen: Er liest ihn in der Originalsprache und streut davon Spuren hier und da in seine eigene Texte. Ein Beispiel ist – oder wäre – das Glas auf einer Falte der Tischdecke in Um die Dinge ganz zu lassen, „aufgehoben zwischen schon nicht mehr / und gerade noch“, wofür Thilo noch Montales Ausdruck „in bilico“ im Ohr hatte. Ich habe ihn für sehr passend gefunden und tatsächlich für „aufgehoben“ in eben jenem Vers gleich genommen – denn das bereitete mir schon seit Tagen übersetzerische Sorgen. Erst später habe ich festgestellt, dass „in bilico“ in den Sammlungen von Montale, die Thilo meinte, nicht vorkommt, so dass die italienische Übersetzung eher einen durch Thilo gefilterten Montale aufgreift: wieder eine gute Mischung aus Nähe und Distanz.

Apropos Distanz: Thilo betrachtet nicht nur die italienische Lyrik, sondern auch die sächsische Provinz aus der Ferne, denn er hat schon bald auf seinem schmalen Boot das Weite gesucht. Wenngleich seine Faszination für die DDR nie zur Ostalgie kippt, wird sie jedenfalls durch das Vergrößerungsglas von jemandem erlebt, der seit Jahrzehnten im Ausland wohnt. Das rettende Boot scheint mir bei Thilo schon sehr bald [→ Tapete] das Lernen gewesen zu sein, das in verschiedenen Formen auch in seinen Gedichten vorkommt: Es erfolgte sowohl in der Schule als auch autodidaktisch in vielen Bereichen, es erstreckt sich, von einer vitalen Neugier gefüttert, auf reale, theoretische und literarische Welten, die sich niederschlagen in Gedichtzyklen wie No Hobo Train und Eine Stadt für Bashō, in Bezügen auf Dichter aus ganz anderen Sprachregionen (Wallace Stevens, Robert Hass, Han Shan, Tomas Tranströmer), im Erforschen der Umgebung mit den eigenen Kindern [→ Vorstadtsommer; Geschichten] sowie in zahlreichen Tier- und vor allem Insektengedichten [→ Hornisse, Platos Falter, die Schnaken im Reise zum Mittelpunkt des Sommers, Tauben]. Es handelte sich keinesfalls um eine rein geistige Flucht: Während dieser Wissensreise hat Thilo ganz konkret an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich mit einer Doktorarbeit über „Evaluating Congestion Management Schemes in Liberalized Electricity Markets Applying Agent-based Computational Economics“ promoviert, umfassende Forschungs- und Branchenerfahrung gesammelt und verantwortet nun die Investitionsstrategie des Stromnetzes beim Elektrizitätswerk der Stadt Zürich: Wenn das Herz links sitzt, muss man eben den Kopf ein Stück nach rechts lehnen. Es scheint zwar eine sehr praktische Aufgabe zu sein, aber dank der magischen Inkonsistenz des Lichtes [→ Kleine Geschichte der Elektrizität] und mancher Tagungen [→ Die Forscher fahren über Land] bietet sie der poetischen Schöpfung genau so viel Inspiration wie sonst der Alltag: Darin sieht Thilo Krause, wie er oft beteuert, keinen grundlegenden Unterschied.

Das Doppelleben des Autor-Ingenieurs zwischen drei Ländern und drei Sprachen – das Deutsch der Kindheit und der Literatur, das Schweizerdeutsch des Alltags und seiner Kinder, das Italienische seiner Ehefrau Sabrina, seiner Schwiegereltern und der Urlaube [→ Neve/Schnee; Sardische Notizen; Giardino di Boboli; Der Gast in der Küche]ist zwar ein wackeliger und nicht immer leichter Balanceakt, den aber Thilo auch dank der Schreib- und Meditationsdisziplin erstaunlich gut meistert [→ Für Han Shan, Meditation in der Fremde]. Die verschiedenartigen Bezüge zur italienischen Sprache und Kultur erklären natürlich auch den emotionalen Wert der italienischen Anthologie und nicht zuletzt unsere Bindung.

Die Kombination der jeweiligen Balanceakte zwischen Nähe und Distanz begründet also wenigstens zum Teil unsere Wesensverwandtschaft. Durch eine glückliche Fügung leben wir beide fern von der jeweiligen Heimat, ich eine Stunde Fahrt von seiner entfernt, sozusagen fast an seiner Imaginationsquelle, worin ich täglich durch meine Übersetzungen von Wolfgang Hilbig und Clemens Meyer eintauche, um sie dann fürs italienische Publikum umzugießen. Er ist mit einer Italienerin, ich mit einem Ostdeutschen verheiratet, wir sprechen beide in unserem Alltag eine Sprache, die nicht unsere Kindheitssprache ist, Thilo Schweizerdeutsch und Italienisch zu Hause, ich hauptsächlich Deutsch sächsischer Färbung (woanders habe ich in Deutschland praktisch nie gelebt); sogar die Urlaubsorte haben wir gemeinsam, sein Meer ist auch mein Meer, das Sardinien und Ligurien bespült, und das verbindet.

Für Thilo Krause eröffnet das Gedicht den „betretbaren Raum zwischen Ich und Wir. […] Dort können wir uns begegnen, im Wissen um die Dinge, die uns trennen und jene, die uns verbinden“ (Dankesrede zur Verleihung des Peter-Huchel-Preises 2019). Dieselbe Definition könnte von meiner Seite aus für die Übersetzung gelten. Die drei parallelen Narben auf den Wangen sieht man nicht, aber wir erkennen uns trotzdem.

Thilo Krause und Roberta Gado haben bereits einige gemeinsame Erfahrungen gesammelt, woraus schließlich die italienische Anthologie Che si dice mentre tuona entstanden ist. Im Oktober 2018 waren sie für zwei Wochen Gäste des Schweizer Instituts in Rom, wo sie eine Übersetzungswerkstatt und eine gemeinsame Lesung in der Casa delle Traduzioni gehalten haben. 2019, als Thilo Krause den Peter-Huchel-Preis bekam, haben die beiden eine kollektive Übersetzungswerkstatt beim ersten Internationalen Treffen von Lyrikübersetzer·innen JUNIVERS 2019 geleitet, die mit einem gemeinsamen Auftritt alle achtzehn Teilnehmer·innen auf dem Lyrikmarkt des Poesiefestivals Berlin gekrönt wurde.

In diesem Sinne – und auch im Wissen um die vielen Dinge, die uns noch lange gemeinsam beschäftigen und verbinden werden, hoffen wir auf ein schnelles Wiedersehen und viele weitere Begegnungen im virtuellen wie im ganz realen Juniversum!

Euer JUNIVERS-Team
Aurélie, Peter und Kathrin

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

360