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›Junivers‹ von Lea Schneider

›Junivers‹ von Lea Schneider

»Zweiundzwanzig Turnübungen für die Seele« (Dai Weina)


»Zweiundzwanzig Turnübungen für die Seele« versammelt die chinesische Lyrikerin Dai Weina in ihrem gleichnamigen Gedicht, und jede einzelne davon ist ein scharfzüngiger, metapoetischer Kommentar: Auf die Lächerlichkeit von Propaganda, auf die Befindlichkeiten von Genres, auf die Geschichte, die sich in Worten ablagert.

Dai Weina hat ein großartiges Gespür für den ideologischen bagagge gerade der einfachen Worte. Eine poetische Fähigkeit, die in einem Land, in dem das Ministerium für Kultur auch das Ministerium für Zensur ist, tagtäglich trainiert wird.

Wenn Dai Weina ganz allgemein über einen

einen Platz schreibt, dann wissen ihre Leser:innen, welcher Platz das ist, weil es im Chinesischen seit 1989 nur noch einen Platz gibt, den man meinen kann, wenn man von einem Platz schreibt.

Wie übersetze ich diese Sensibilität ins Deutsche? Wie mache ich dieses Schwergewicht von leichtfertigen Worten spürbar? Bleibe ich wörtlich, dem Original »treu«, verwandelt sich das Konkrete, Ironische, Bedrohliche des chinesischen Platzes in einen deutschen Allgemeinplatz:

»Sehr früh schon stand ich auf einem kargen Platz und schwor im Stillen: Ich werde schreiben! Nachdem ich groß geworden war, bemühte ich mich fleißig, ein Mensch zu sein, der für Vaterland und Volk keinerlei Nutzen hat.«

Jede:r chinesische Leser:in erkennt im stillen Schwur, im fleißigen Bemühen, im Ausrufezeichen eine Verballhornung des staatlichen Propaganda-Diskurses. Welche:r deutsche Leser:in erkennt das? In der Übersetzung mussten Hörhilfen her: Die Ironie aufdrehen, die Adjektive hochpitchen. Um den ideologischen Hallraum zum Klingen zu bringen, bediente ich mich bei der Sprache des deutschen Sozialismus.

 

 

Lea Schneider

wurde 1989 in Köln geboren, lebt nach längeren Aufenthalten in China und Taiwan als freie Autorin, Übersetzerin und Kritikerin in Berlin. Ihre literarische Arbeit bewegt sich zwischen Lyrik, Essay und Übersetzung, aber am liebsten vermischt sie alle drei Formen zu etwas Neuem. Gemeinsam mit dem Lyrikkollektiv G13 entwickelt sie Gedicht-Performances und Formate des kollektiven Schreibens. Als Kritikerin schreibt sie u. a. für die Süddeutsche Zeitung; als Autorin war sie zu Gast bei zahlreichen internationalen Literaturfestivals, zuletzt bei Poetry International in Rotterdam. Ihre Übersetzungen von chinesischer Gegenwartslyrik in die deutsche Sprache wurden mit einem Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds und dem Poetry East West Translation Award ausgezeichnet. Für ihre eigenen Werke erhielt sie den Dresdner Lyrikpreis, den Post-Poetry-Award sowie Stipendien der Kunst-Stiftung Rheinland-Pfalz und des Goethe-Instituts Nanjing. Im Verlagshaus Berlin erschienen zuletzt Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik (2. Aufl. 2017) und Invasion Rückwärts (2. Aufl. 2016).

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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