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›Junivers‹ von Nicolas Cavaillès

›Junivers‹ von Nicolas Cavaillès

»Atât.« (Nichita Stӑnescu)

Fertig. Das war’s. Alles ist gesagt. Mehrere Gedichte von Nichita Stӑnescu enden mit dieser zweisilbigen Zeile, mit diesem einen Wort, atât, einem Adverb des Maßes und der Intensität, das, ohne Ergänzung verwendet, »nur das, weiter nichts« (eccum tantum) bedeutet.

Der Dichter las dies ernüchternde Wort stets schneller vor als alles Vorangegangene, und ohne zu lächeln: Man hätte Ironie oder eine Form der Provokation heraushören können (wie das Kind, das sein Aufsagen mit einem raschen »voilà« beendet); doch lud Nichita dazu ein, es beim Wort zu nehmen. Alles war gesagt.

Die ursprüngliche Öffnung des A (der Urschrei, das Eine, das Alpha), schroff geschlossen: A/tât, mit dem spezifisch rumänischen â, einem geschlossenen, ungerundeten Zentralvokal, der im hinteren Teil des Kehlkopfes gedämpft und hier zwischen zwei taube Dentalokklusive gepresst wird. Der Dichter verabschiedete sich nicht so sehr, wie er den Geist seines Publikums auf die endlose Meditation hin eröffnete: unser aller Zustand, jäh offenbart in seiner Einfachheit.

Mit diesem unübersetzbaren »Atât.« endet unter anderen auch das Gedicht »Ce este viaţa? Când începe şi încotro se îndreaptӑ?« (»Was ist das Leben? Woher kommt es und wohin geht es?«), veröffentlicht im Jahr 1969. Angesichts der Seinsfrage (»Ce este ?«, »Was ist?« oder »Was gibt’s?«), buchstabiert Nichita Stӑnescu das Verb este:

[…] Este, pur şi simplu. / Adicӑ E, adicӑ S, adicӑ T, adicӑ E. // Primul E mai vechi decât ultimul E. / Atât.

[Este [es gibt], schlicht und einfach. / Nämlich E, nämlich S, nämlich T, nämlich E. // Das erste E älter als das letzte. / Das war’s.]

Bei este wie bei atât genügen dem Dichter wenige Buchstaben, um alles zu sagen: Worte sind, wie das Übrige, Zeit, die vergeht, gegenwärtige und zyklische Zeit, in ihrem Klang und ihrer visuellen Materie verkörpert. Das Wort offenbart sich als Bild und Klang der Zeit, des sich öffnenden, dann schließenden Lebens und des Flusses von allem.

 

Nicolas Cavaillès

ist Schriftsteller, Verleger und Übersetzer aus dem Rumänischen. Er ist Herausgeber der Werkausgabe von Emil Cioran in der renommierten Reihe »Bibliothèque de la Pléiade« (2011) und Autor mehrerer Bücher, die bei Éditions du Sonneur erschienen sind, darunter »Vie de monsieur Leguat« (Prix Goncourt de la Nouvelle 2014) und »Pourquoi le saut des baleines« (Prix Gens de Mer 2015).

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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