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›Junivers‹ von Marie Luise Knott

›Junivers‹ von Marie Luise Knott

»Ça va je dis sans dire et la tête et la tête« (Valérie Rouzeau)

Ich weiß nicht, warum mich Valérie Rouzeau beim Lesen gleich in ihren Bann zog. Ich dachte, es läge an Jacques Prévert, aber genau weiß ich es wirklich nicht. Kennen Sie das? Sie hören Verse und sind zu Hause. So einst bei Prévert, so neulich – ganz anders – bei Rouzeau. Es muss am Sound liegen.

Wie immer dem sei. Das Gedicht, um das es hier geht, handelt von einer Frau, die nach dem Tod ihres Vaters ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgeht, und auf die Frage, wie es geht, wieder und wieder »Ça va« sagt. »Es geht so«, würden wir sagen, oder »Ganz gut«. Aber »es geht so« klingt nicht. Und »ganz gut« funktioniert nicht, weil es bei »Ça va« ja ums Weitergehenmüssen geht.  Also: »es geht«.  Die erste Zeile des Gedichtes lautet auf Französisch: Ça va quand on me demande moi je dis bien – und schon ist man mitten im Dilemma. Man merkt, Rouzeau liebt es Fragmente idiomatischer Wendungen ineinanderzuschieben – ein Spiel, um dem Sprechen wie dem dazugehörigen Denken (oder vice versa?) immer neue Wendungen zu eröffnen. »Es geht sag ich wenn man mich fragt sag ich ganz gut«. Im weiteren Verlauf des Gedichts begleitet man das Ich zur Gemüsefrau und zum Postamt und dann folgt die besagte Zeile. Ça va je dis sans dire et la tête et la tête

»Ganz gut sage ich ohne zu sagen und der Kopf und der Kopf.« Poesie ade. Zweiter Gehversuch: »Ganz gut sag ich und nicht und der Kopf, und der Kopf.« Irgendwie so. Vielleicht. Gedichte sind erst fertig, wenn sie fertig sind. Und diese Zeile ist nicht fertig, man hört es sofort: und und und. Und? Ich übersetze die nächste Zeile des Gedichts, in der Hoffnung auf Hinweise:  »Ça rime à rien ta mort intérieurement pauvre chant.« Das läuft: »Dein Tod reimt sich auf nichts in mir armselig Lied.«

Auf die übliche Frage, wie viel Freiheit man sich beim Übersetzen nehmen darf und muss, habe ich immer die gleiche Antwort: Alle und keine. Ich übersetze nicht allein auf Sinn, nicht allein auf Silben, nicht allein auf Wörter, ich leiste mir auch keine eigenen Einfälle, wo ich nicht weiterweiß, so gut sie manchmal sein mögen, ich halte mich an die jeweiligen poetischen Verfahren, als da wären Buchstaben, Sprachmaterial, Klang und Reim und alles. In diesem Rahmen bin ich frei, klopfe die eigene Sprache ab, leuchte sie aus nach allem, was sie kann. Und immer wieder die Frage: Was steht da? Nichts ist fertig, bevor es nicht genau so fragil oder fest an seinem Platz steht, wie es das im Original auch tut. Der „chant“, das Lied, bringt mich schließlich auf eine Idee: in »et la tête et la tête« klang mir von Anfang an das Kinderlied »Alouette« mit – und als ich mich daran erinnere, dreht sich alles, und plötzlich heißt die Zeile vorläufig

Es geht sag ich und nicht Stummkopf geht um.

Und nun weiter im Gedicht.

 

 

Marie Luise Knott

lebt als freie Autorin, Kritikerin und Übersetzerin in Berlin. Ihr Werk Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, war nominiert für den Leipziger Buchpreis und den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik. Sie ist Mitherausgeberin von John Cage. Empty Mind zusammen mit Walter Zimmermann, Berlin 2012. Von Anne Carson hat sie übersetzt:  Anthropologie des Wassers (2014) , Albertine. 59 Liebesübungen (2017) und Irdischer Durst (2020). Im Internet-Kulturmagazin perlentaucher.de hat sie eine Kolumne für zeitgenössische Lyrik unter dem Titel: Tagtigall.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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