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›Junivers‹ von Simone Homem de Mello

›Junivers‹ von Simone Homem de Mello

O que será (Erich Fried: Angst vor der Angst)

Während der Junivers-Woche 2019 in Berlin wurde ich zum ersten Mal im Leben herausgefordert, ein Gedicht zu übersetzen, das ich mir nicht selbst ausgesucht hatte. Es ging um Erich Frieds ›Angst vor der Angst‹.

Jeder Literaturübersetzer weiß, dass das Allerschwierigste in diesem Metier das ›Einfache‹ ist. Die einfachen, schematischen Satzstrukturen des Gedichts, die fast den Eindruck einer permutativen Übung erwecken und das Automatische des Denkzwangs ikonisch darstellen, wären im Portugiesischen nicht wiederherzustellen. Normalerweise würde ich dann auf das Übersetzen des Gedichts verzichten, aber in dem Fall ging es nicht.

Mit dem Scheitern als Prämisse des Weitertuns übersetzte ich das Gedicht und verfeinerte es und schliff es und. Erst beim Lesen der Endfassung wurde mir einiges klar. Erstens hatte sich die moderne, schlichte Gestalt des Gedichts in ein eher labyrintisches, barockes Gebilde verwandelt, was gar nichts mit Erich Fried zu tun hatte. Ich hatte also ein Gedicht gewissermaßen übersetzt, aber die Poetik des Autors dabei verfälscht. Etwas, was ich oft an Lyrikübersetzungen vorwerfe. Das war also die Bestätigung des Scheiterns.

Aber es gab einen sich wiederholenden halben Vers, an dem ich doch einen Dreh erkannte, den ich im Nachhinein so beschrieb:

Zufälligerweise (oder auch nicht) ist die geläufigste Form für ›was kommt‹ im Portugiesischen ›o que vai ser‹ oder ›o que será‹ – wie der Titel des berühmten Lieds (Jay Livingston / Ray Evans), auf den wiederum ein sehr bekanntes (Widerstands)Lied des brasilianischen Komponisten Chico Buarque de Hollanda aus dem Jahr 1976 verweist. So scheint das übersetzte Angst-Gedicht an die dunklen Zeiten der Militärdiktatur in Brasilien zu erinnern, was als Beiklang gar nicht so verkehrt ist. Schön, dass Fried auf diese Weise wieder belebt wird. Was man seit langer Zeit nur für Geschichte gehalten hat, ist wieder da. In Brasilien haben dieselben blutsüchtigen Eliten, die den Militärputsch 1964 unterstützt haben, einen rechtsradikalen randalierenden Psychopaten an die Macht verholfen. So wird politisch engagierte Lyrik nie alt, egal zu welcher Zeit sie geschrieben worden ist. Leider.

 

Simone Homem de Mello

lebt in São Paulo. Sie ist Autorin (Lyrik, Libretti) und Literaturübersetzerin, mit Schwerpunkt auf der modernen und zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik und dem Werk Peter Handkes. Sie leitet das Studienzentrum für Literaturübersetzung im Museum Casa Guilherme de Almeida (São Paulo) und forscht am Referenzzentrum Haroldo de Campos im Museum Casa das Rosas.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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