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›Junivers‹ von Steffen Popp

›Junivers‹ von Steffen Popp

»Gather your marginals, Mr. Specific. The end / is nigh.« (Ben Lerner, The Lichtenberg Figures)

Einige Verse aus Ben Lerners Gedichtband The Lichtenberg Figures (Die Lichtenbergfiguren) werden mir wohl ewig in Erinnerung bleiben. Nicht nur, weil es tolle Verse sind – von solchen wimmelt es in Lerners Büchern eh –, sondern weil beim Übersetzen seltsame Dinge passierten, und wider alle Wahrscheinlichkeit mit glücklichem Ausgang. Wie beim Schreiben selbst ist auch beim Übersetzen gar nicht so selten, dass sich die erste Intuition am Ende des Tages (oder der Woche, oder des Jahres) als die beste herausstellt. Sie überzeugt in solchen Fällen gerade deshalb, weil sie unverstellt dem Sprachgefühl in der Zielsprache folgt, ohne sich von den Feinheiten und Verstrickungen der Ausgangssprache ausbremsen lassen. »Gather your marginals, Mr. Specific. The end / is nigh.« ist so ein Vers. Statt literal »Such deine Fußnoten zusammen, Herr Speziell. Das End ist nah.« entstand nach – vergleichsweise – kurzem Probieren: »Pack deine Fußnoten ein, Dr. Akribisch. Das Ende ist nah.«

Um beim ›Ende‹ zu beginnen: das alte, tonal ›hohe‹Englisch der King James Bible in ein Deutsch etwa der Lutherbibel zu übersetzen, erscheint technisch machbar, ist aber keine attraktive Option. Der tonale Effekt, der sich im Englischen aus der Verschiebung von »near« zu »nigh« ergibt, lässt sich im Deutschen nicht gut nachbilden, da wir allenfalls das Wort »Ende« zu »End« verkürzen können, um den Ton entsprechend zu wenden. Wollte man das Temporalobjekt transformieren, wäre man bei etwas wie »Das Ende nahet« – eine Verschiebung vom Objekt zum Verb und in eine Tonlage, die eher bei Addams Family als im Neuen Testament angesiedelt ist. Das Wörterbuch Dict.cc gibt eine schöne Illustration, wie die Übertragung dieser Tonlage in die Hose gehen kann: ›Autumn is nigh‹ – ›Es herbstet‹ … o je. Dann doch lieber eine wörtliche Übersetzung unter Verlust des biblischen Tons. (Anm. 1) Der tonale Kontrast von erstem und zweitem Satz muss im ersten Satz realisiert werden.

»Marginals« sind Fußnoten, wie sie in akademischen Texten verwendet werden. Der akademische Kontext wird im Fortgang des Gedichts mehrfach aufgerufen, das Begrifflichkeiten poststrukturalistischer Philosophie profanisiert: »We decentered our ties« (Wir dezentrierten unsere Krawatten) heißt es wenig später. Die für den Rhythmus wichtige zweisilbige Aussprache der englischen Abbreviatur »Mr.« lässt sich im Deutschen erhalten, indem man den akademischen Kontext forciert und den ›Herrn‹ zum ›Dr.‹ promoviert. ›Dr. Spezifisch‹ oder ›Dr. Speziell‹ funktionieren klanglich und rhythmisch schon gut, wirken aber semantisch noch nicht optimal – der Aspekt des (Über)genauen, der auch in den Fußnoten steckt, geht hier weitgehend unter. Dass es schließlich anders und viel besser kommt, hat mit dem Anfang der Zeile zu tun. »Gather«, das ‚einsammeln‘ oder ‚zusammensammeln‘ hat im Kontext des Gedichts einen starken Hang zu ›packen‹ – wenn das (biblische) Weltende naht, wird man schnell alles Wichtige in den Rucksack stopfen und den Ort fluchtartig (wohin auch immer) verlassen. Wird man als Akademiker gefeuert, und auch das schwingt im Text mit, muss man seine Zettel zusammensuchen und den Schreibtisch räumen. Das deutsche »sammeln« ist unerträglich lang, der Appellativ – »sammle« oder neudeutsch »sammel« – lässt sich kaum aussprechen. Der Appellativ erfordert zudem eine Aufteilung des Verbs  in Hauptverb und Präposition – ein Grund mehr, es kompakt zu halten. Auch der Kontext spricht dafür: Ein Aufforderung im wie auch immer gearteten Ernstfall sollte so prägnant wie möglich sein. »Pack deine Fußnoten ein« hat einen weiteren Vorteil: »du kannst einpacken« schwingt darin mit und damit das Apodiktische einer Kündigungsszene oder eines Weltendes. Aus unerfindlichen Gründen treibt nun eine uralte Tonspur ans innere Ohr des Übersetzers, die gar nicht apokalyptisch klingt und ihn sofort überzeugt: »Pack die Badehose ein« aus den Abgründen der Berliner Volksmusik von Conny Froboess!!

Erster Track, zu empfehlen ist auch Nr. 3 – und natürlich die Nr. 4: Berliner Luft

 

Der Bibelton des zweiten Satzes ist verloren, aber hier bietet sich die Gelegenheit, eine Tonschwankung – ganz anderer Art, aber nicht weniger krass – auch im Deutschen ›einzusammeln‹. Froboess’ Badefantasien beziehen sich auf den Berliner Wannsee, dem Übersetzer schwebt jedoch das Meer vor. Warum dies nun wieder – ah, klar, die ostdeutsche Biografie spielte den nächsten Badeschlager ein: »Du hast den Farbfilm vergessen« von Nina Hagen, der bekanntlich am Ostseestrand auf Hiddensee spielt.

Wären syntaktisch so komplex gebaute Lyrics im Schlager ohne Brecht denkbar?

 

Um es kurz zu machen: Von der Ostsee gings zeitgenössisch in die Karibik und von dort via Lautleite zu ›akribisch‹ – »Dr. Akribisch« war geboren, die Tonschwankung eingeheimst und das Übergenaue von »specific« ebenfalls. Danke Conny, Nina und dem kulturellen Gedächtnis, in das sich eure Songlines eingeschrieben haben!

 

Anmerkungen

Anm. 1: Auch dass die Formel aus der Offenbarung des Johannes in mannigfachen englischsprachigen Film-, Musik- und Gaming-Kontexten adaptiert wurde, hilft hier nicht weiter.

 

 

Steffen Popp

wurde 1978 in Greifswald geboren und wuchs in Dresden auf. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Dresden und Berlin, sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2001 lebt er in Berlin. Zuletzt erschienen die von ihm herausgegebene Lyrik-Anthologie ›Spitzen. Fanbook. Hall of Fame‹ (Suhrkamp 2018) sowie der Gedichtband ›118‹ (Kookbooks 2017)

 

Für einen noch tieferen Einblick in Steffen Popps Lerner-Übersetzungen geht es hier zu seinem TOLEDO-Journal ›Keine Kunst …‹.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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