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›Junivers‹ von Anja Utler

›Junivers‹ von Anja Utler

»В огромном городе моем – ночь. / Из дома сонного иду – прочь« (Marina Cvetaeva, Бессонница / Schlaflosigkeit, 1916)

Zwei Zeilen aus Marina Cvetaevas Zyklus »Бессонница« – »Schlaflosigkeit« (1916), die ich schon lang bei mir habe. Früher habe ich sie mir vorgesagt, wenn ich mehr Mut brauchte:

В огромном городе моем – ночь.    (V ogromnom gorode mojem – noč‘.
Из дома сонного иду – прочь          Iz doma sonnogo idu – proč‘)

Der Inhalt ist simpel und nicht per se talismantauglich:

In meiner riesigen Stadt – [ist] Nacht.
Aus [dem] verschlafenen Haus gehe [ich] – fort

Basisangaben – Wo? Wann? Wer? Was? – als fadenscheiniges Gitter, aus dem die Verse erst wachsen, aus dem Rhythmus und Lautung erst etwas Handfestes, Brauchbares machen:

V agrómnəm góradje majóm – nótsch.
Is dóma sónnavə idú – prótsch

Russische Betonungen sind ausgeprägt und voll. Eigentlich wie Magneten, und die umliegenden Vokale geben ihnen etwas von ihrer Kraft ab. Dafür werden sie selbst leichter – dünnere a’s, laxe e’s (ə), angetippte i’s. Über diese Perlenschnur aus kräftigen und flatternden Vokalen tänzelt das Russische, ohne deshalb die Bodenhaftung zu verlieren.

Cvetaevas Verse modellieren diese Struktur und können so sagen, was sie sagen. Die vier Betonungen im ersten Vers sind ausschließlich schwere o’s. Bis zur dritten geht es halbwegs jambisch-locker dahin, aber dann – zack. Auf das betonte -jom von majom (meiner) folgt ohne Puffer notsch (Nacht). Man knallt in diese Nacht wie in eine abwehrend ausgestreckte Hand, ein Versende als Staumauer.

Im zweiten Vers dann weiter schwere o’s, bis sich endlich etwas ändert. Zwar prallen am Versende wieder zwei Betonungen aufeinander, aber jetzt ist es anders – ein über diesem (g)rollenden Lautboden geradezu jubilierendes idú hebt an: idú – prótsch, gehe fort. Im Verein drehen Lautänderung, Wortbedeutung und Wiederholung das Rad um den entscheidenden Ruck weiter: bambam! Das ist kein Stillstand. Das sind Schritte! Eine junge Frau stapft aus dem Haus, wo sie schlafen sollte, und nimmt es mit ihrer riesigen Stadt auf. Der glückliche Umstand, dass in ogromnyj (riesig) auch der Donner (grom) steckt und in der Stadt (gorod) auch der Berg (gora), behütet außerdem vor mutwilliger Fehllektüre: fort (proč‘) markiert hier nicht Flucht, sondern Kampfansage.

Meine Transfer-Versuche, wie: » Nacht in meiner großen Stadt. / Bei mir schläft alles, ich – hau ab« oder »Die Nacht, die Stadt, alles so – groß. / Das Haus voll Schlaf, ich: mach mich – los« können das nicht auffangen. Die transgressive Kraft der russischen Verse lässt sich nur in ihrer magischen Fügung anrufen.

 

Anja Utler

arbeitet als Dichterin, Essayistin und Übersetzerin. Ihre Gedichte gibt es gesprochen, geschrieben und performt. Hören, Sprechen und Lesen sind in ihrer Poesie Kräfte, die Denken und Fühlen formen und so in die Welt eingreifen. 2014 erhielt Anja Utler den Basler Lyrikpreis. 2003 wurde sie mit dem Leonce-und-Lena-Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde sie mit einer Arbeit zu Geschlechterfragen in der russischen Lyrik der Moderne promoviert. Ihre jüngste theoretische Arbeit („manchmal sehr mitreißend“ von 2016) beschäftigt sich mit der Frage, welche Schichten des (Sprach-)Bewusstseins in Bewegung versetzt werden, wenn eine Person sich Gedichte anhört. Anja Utlers Gedichte wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und in Anthologien, Zeitschriften und in einigen Ländern auch als Bücher gedruckt. Zuletzt erschienen: kommen sehen. Lobgesang. Edition Korrespondenzen, Wien 2020.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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