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›Junivers‹ von Ulf Stolterfoht

›Junivers‹ von Ulf Stolterfoht

»It is by seize us. That they christen. Baby. With by. Caesar. / Seize us. That they Christen. A baby. / Which. They do not have. Or. Come. Completely. Finding it. / An aunt. / No one. Mentions. Ants.« (Gertrude Stein)

I

Als die Bibliothek des Berliner Amerika-Hauses am Bahnhof Zoo aufgelöst worden war und man den Bestand offenbar auf die Stadtteilbüchereien verteilt hatte, fiel mir in der Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor durch reinen Zufall der sechste Band der achtbändigen Yale University Press-Ausgabe von Gertrude Steins zu Lebzeiten unveröffentlichten Werke in die Hände, und wenn ich dem eingeklebten Ausleihzettel auf der letzten Seite trauen durfte, hatte der Band bis dahin praktisch ungelesen auf mich gewartet. Neben den kapitalen »Stanzas in Meditation«, an denen Barbara Köhler bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Januar dieses Jahres immer wieder gearbeitet hatte, und einer Sammlung »Shorter Pieces«, enthielt der Band das lange Gedicht »Winning His Way«, aus dem die Verse oben stammen. Und dieses Gedicht habe ich dann, nicht zuletzt mit Hilfe eines Stipendiums der Berliner Übersetzerwerkstatt des LCB, für Urs Engelers Verlag übersetzt, wo es 2005 auch glücklich erschienen ist. Nun kenne ich es normalerweise so, dass ein Projekt, bei allen Fehlern und Makeln, wenn es denn veröffentlicht ist, ein natürliches Ende findet und man sich eben eingesteht, dass die eigenen Möglichkeiten Grenzen haben  – und das gilt für übersetzte Gedichte genauso wie für selbst geschriebene! Hier nun war es anders: Gertrude Steins Text beschäftigt mich bis heute, und die Unzulänglichkeiten meiner Übersetzung treten mir immer deutlicher vor Augen. Die obigen Verse, die ich als einen Vers lese, sind das beste Beispiel dafür.

 

II

Was Gertrude Stein hier aufgeführt, ist ein semantisches und klangliches Kammerspiel mit allen möglichen Subtexten. Über »seize«, »Caesar« und »Seize us« zu einem nur gehörten »scissors«, das den »Caesar« direkt zum Kaiserschnitt führt, über die Inklusionspiele »Baby. With by« (Wie schreibt man eigentlich Baby? Na, am Ende mit -by!) oder »Come. Completely« bis zum wirklich seltsamen Reim »aunt« / »ants«, der ja vielleicht auch »ends« im Gepäck hat. Und je länger man drauf schaut, umso mehr findet man auch. Paranoia beginnt am Schreibtisch. Und Überdeterminiertheit ist auch nur ein Wort.

 

III

Der Zustand zur Stunde:

es geschieht uns durch einschnitt. sie
taufen auf säugling. gleichsam gekaisert. scheren. sie chris-
ten ein kind. das. sie nicht einmal haben. oder. kommen.

geschlossen. ihm eine amme. zu finden. keiner. erwähnt.
ameisen.

 

IV

Aber so kann man das nicht lassen! Auf keinen Fall kann man das so lassen!

 

Ulf Stolterfoht

geboren 1963 in Stuttgart, lebt in Berlin. Dichter und Übersetzer. Im Moment arbeitet er an der Übersetzung von Ted Berrigans »The Sonnets«.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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