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›Junivers‹ von Dagmara Kraus

›Junivers‹ von Dagmara Kraus

»szara naga jama« (Miron Białoszewski)

Ein Hohlraum, eine Leerstelle, Lücke, die klafft, wie von einem ausgeschlagenen Zahn, nur um ein Vielfaches größer, gleichwohl ebenso unansehnlich, denn sichtlich von einem Wegnehmen erzeugt einer langjährigen Gegenwart, die einer bleiernen Spur wich, krudem Abdruck, an seinen Rändern leicht beigefarben, der bloßen Kontur des vormals Dagewesenen, dessen Fehlen ein Loch ins Präsens riss, spürbar bis ins Gedicht: szara naga jama.

Nicht, dass ich diesen sechssilbigen Vers von Miron Białoszewski nicht übersetzt hätte. Über die letzten zehn Jahre hinweg setzte ich sogar mehrfach an, um ihn neu, um ihn ‚umzuübersetzen‘. Zwischen der deutschsprachigen Erstveröffentlichung von »Selbst, ach, selbst wenn sie mir den Ofen nähmen. Meine unerschöpfliche Ode an die Freude« (Ach, gdyby, gdyby nawet piec zabrali. Moja niewyczerpana oda do radości) – so der Titel des dazugehörigen Gedichts – und seiner Wiederveröffentlichung, kürzlich, in dem Band M’ironien, habe ich vielmals versucht, die Zeile einzufangen, sie anders und aufs Neue anzugehen. Doch es scheint ihr auf Deutsch nicht beizukommen, dieser japanisch klingenden, teils im Staccato notierten und quasi solmisierten Strophe:

 

szara naga jama
szara-naga-jama
sza-ra-na-ga-ja-ma
szaranagajama.

 

In Frau Schneider lernt Polnisch kritisiert Sabine Hassinger meine unvollkommene übersetzerische Lösung. Und sie hat recht, denn im polnischen Original ist nirgends von einem »großen bloßen loch“ die Rede, wie ich die Zeile übersetze. Wir haben es vielmehr mit einer Art „grauer nackter Stelle« zu tun, zugleich mit einer Öffnung – fast von der Art eines (vor Verwunderung oder Entsetzen etwa) offenen Mundes, suggeriert durch das Wort »jama«. Dieses höhlenhafte »jama« in der beinahe zur Redewendung gewordenen Zeile hat im Polnischen allerdings reichlich Bedeutungen, wie man nicht zuletzt anhand der verschiedenen Interpretationen von polnischen Künstler*innen sehen kann (die bis zu Geschlechtsteilen in grauem Kreuzstich reichen), während kein deutsches Wort im Gedichtkontext die richtige trifft. Czesław Miłosz hat die Zeile im Rahmen seiner Anthologie Post-War Polish Poetry (1965) recht brutal ins Englische als »grey naked hole« übertragen, womit sie im Zusammenhang vor allem polnische Nachkriegsatmosphäre ausstrahlt, aber das Verschmitzte des Gedichts überhaupt nicht rüberbringt.

Eine teils homophone Übersetzung der Zeile ins Deutsche wäre vielleicht denkbar gewesen, wiewohl sich der »Jammer« kaum mit der unerschöpflichen Freude der Titelzeile deckt. Eine wörtliche Übersetzung hingegen, und zwar dessen, was im Gedankenspiel der Verse nach der Entfernung des Kachelkohleofens in der Zimmerecke zurückbleibt, nachdem (meiner unbedarften ersten Auslegung zufolge) der imaginierte Gerichtsvollzieher kam, um die spärlichen Güter des armen Dichters zu pfänden und ihm mit dem herrschaftlichen Heizofen noch das Allerletzte an Besitz zu nehmen, kam nicht in Frage. (Tatsächlich waren im Freudeskreis des Dichters Demontage und Abverkauf der Einzelteile des wertvollen, aufwendig ziselierten Kachelofens erwogen worden, um zu Geld zu kommen.)

Wichtiger als die von der Kritikerin bemängelte übersetzerische Wörtlichkeit scheint mir die Tatsache zu sein, dass der Vers vom Rhythmus getragen ist. Er thematisiert Rhythmus und rhythmischen Wechsel, indem er durch das Aufbrechen der Zeile und die gleichzeitige Platzierung von bindenden Satzzeichen die um das sechsmal wiederholte A angeordneten Buchstaben zum Sprechen bringt. Auch Miron Białoszewski ist schließlich, wie es Alexander Blok für einen jeden Dichter feststellt oder vielmehr einfordert, zuallererst ein »Sohn des Rhythmus« (Anm. 1).

»Großes bloßes loch« reimt sich in den ersten beiden Gliedern zwar stärker als das Original, aber immerhin – und dies des gekappten Fußes zum Trotz – korrespondiert die Länge der »O«s mit der Länge der »A«s. Das »O« unterstreicht im Deutschen dabei bildlich die hergestellte Leere, wohingegen per »A« vor allem durch den offenen Klang im Polnischen ein Leerstehen von etwas vermittelt wird. Und ich weiche noch weiter ab: »podobny do bramy triumfalnej« bedeutet wörtlich »ähnlich dem [oder einem] Triumphbogen«; »herrlich wie ein Triumphbogen« übersetze ich und hätte die Passage durchaus anders verdeutschen können, etwa: »einem Triumphbogen ähnlich«.

Bevor ich »jama« mit »loch« amalgamierte, spielte ich eine Version mit einem substantivierten »Hohl« durch, da ich zunächst darauf hoffte, dem Großen und Bloßen ein weiteres langes O hinzuzufügen, das für meine Begriffe so gut zum Fehlen passte. Doch was habe ich nicht alles versucht, um die Farbe, wenigstens einen Farbton, ins Gedicht zu bringen! Aber das maulwürfische Element der Versuchslösung »taupes bloßes« gab das, was ich schließlich stillschweigend mit dem Adjektiv »großes« vergrößerte, nicht wieder. Allenfalls assoziierte man damit die auf den zum Ofen gehörigen Rohren einst zum Trocknen aufgehängten »onuce« des Zimmernachbarn Białoszewskis, jene heute ganz und gar antik wirkenden »Fußlappen«.

Man schaue sich diesen Ofen jetzt einmal in seinen geräumigen Dimensionen an, hier mit Leszek Soliński (1926–2005), Białoszewskis langjährigem Lebensgefährten, im Vordergrund, auf einem Foto von Irena Jarosińska:

© The Estate of Miron Białoszewski

© The Estate of Miron Białoszewski

Dazu noch ein weiteres Foto von Irena Jarosińska aus einer anderen Perspektive und diesmal mit einem anderen Freund des Dichters im Vordergrund:

© The Estate of Miron Białoszewski

© The Estate of Miron Białoszewski

Zugegebenermaßen hätte ich dieses herrlichste aller Heizgeräte und das ihm geweihte Gedicht bei der Gelegenheit der Neuübersetzung eigens quasi pfänden und samt seiner approximativen Übersetzung weglassen können. Ich hätte es für diesen Text probeweise per Photoshop mopsen und die »jama« in ihrem Grau und ihrer Blöße zeigen können. Stattdessen aber habe ich mich schlicht für dieselbe Lösung entschieden. Und da steht er also wieder, der Keramikofen, Auslöser unerschöpflicher Freude und Anlass einer Ode, die mich seit Jahrzehnten begleitet; Ofen aus einer Zeit, als die Winterluft noch nach Braunkohle roch und man riesige Haufen davon vor die Stadthäuser schüttete, um die Kellermünder zu füttern. In seiner biligualen Doppelgestalt steht der Ofen auf den Seiten 30 und 31 der M’ironien und dort recht fest und unbeweglich – mitumgezogen aus der Wohnung in der Warschauer Poznańska 37, wo Miron bis 1958 in einer Zimmerhälfte wohnte, über das schweizerische Schupfart, wo er kurzfristig aufgestellt wurde, hin zum digitalen Sandwerder am Wannsee, wo ich ihn sogleich aufbaue, um das kleine Fossil meiner langjährigen Versuche in seiner Zusammenschau auszustellen, gefolgt von einem Foto des in seiner Pracht und nie veräußerten Ganzheit in die Warschauer Jetztzeit Geretteten:

 

 

 

Anmerkungen

Anm. 1: Alexander Blok, „Das Schicksal des Dichters“ (1921), zitiert nach Henri Meschonnic, Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Paris, Verdier, S. 97. Und Dichterinnen, dies zur Ergänzung, wären demnach zweifellos allesamt zuvörderst „Töchter des Rhythmus“.

 

Dagmara Kraus

Dagmara Kraus, geboren 1981 in Wroclaw (Polen), studierte Komparatistik und Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin und Paris sowie Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie veröffentlichte die Einzelbände kummerang. Gedichte, kleine grammaturgie, das vogelmot schlich mit geknickter schnute und wehbuch (undichte prosage) und übersetzte von Miron Białoszewski Wir Seesterne und Geheimes Tagebuch.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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