LCB
Moshe Sakal: Auszug aus einem unveröffentlichten Roman

Moshe Sakal: Auszug aus einem unveröffentlichten Roman

Übersetzung: Anne Birkenhauer

Zum Originaltext Zum Digital Essay

In meiner Jugend betrachtete mich mein Vater an den Schabbatmahlzeiten immer lange, wie ich vor meinem vollen Teller saß und nichts anrührte. Manchmal habe ich doch ein paar Bissen in den Mund gesteckt. Immer wieder hörte ich von ihm den Satz: „Wie nur bist du aus mir rausgekommen?“
Er hat das nicht ärgerlich gesagt, sondern mit einem großen Staunen. Wie bin ich bei ihm rausgekommen? Zwar durch den Geburtskanal meiner Mutter, aber eben doch aus ihm bin ich rausgekommen. Aus seinem Samen. Aus dem Erbe in seinen Chromosomen und denen jener Generationen, aus denen er, mein Vater, hervorgegangen ist.
Diese erdrückende Tatsache war schwer zu leugnen, denn wir haben ja dieselben Augen, dasselbe Lächeln. Doch unser Körperbau unterscheidet sich ein bisschen. Meiner folgt wohl dem Typ meines Großvaters väterlicherseits, dessen Namen ich auch trage. Und trotzdem bin ich von ihm, von meinem Vater rausgekommen. Und zwar wie?
Sensibel bin ich rausgekommen. Wurzellos. Ein Exilant. Zu Schwermut neigend. Zu dünn. Habe mich nie für Sport interessiert und Fussball richtiggehend gehasst, trotz und vielleicht wegen des Fussballvereins, in den sie mich schon früh geschickt haben. Die populären Schlager, die man in unserer verzweigten Familie bei Hochzeiten und Bar-Mitzwa-Feiern spielte, habe ich verabscheut. Meine Bar Mitzwa Feier mit dreizehn hab ich nicht gemocht. Mein Hirn entwickelte sich damals gerade von einem Kinderhirn zu einem, das langsam in die Welt der Erwachsenen durchdringt, wie ein Zahn aus dem Kiefer. Und ich spürte, es war für mich absolut unpassend, mich einer so großen Menge von Leuten auszusetzen und zu verkünden, ich stünde jetzt auf eigenen Füßen.
Mein Vater stand gegenüber der viel zu großen Versammlung, die viel zu früh morgens in der Synagoge zusammengekommen war, und sagte den Satz, den ein jüdischer Vater bei diesem Anlass sagt: „Gepriesen sei, der mich davon befreit hat, für diesen Jungen bestraft zu werden.“
Gepriesen sei, der ihn von meiner Strafe freispricht.
Um die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht anders als mein Vater rausgekommen, bin ihm vielmehr sehr ähnlich, sehr viel ähnlicher, als er es zugeben konnte. Mein Vater ist nie ein Macho gewesen, nie der männliche Typ, obwohl er es vielleicht versucht hat. Er ist ein angenehmer, sanfter Mann, der Streit meidet und seine Kinder sanft erzog, manchmal auch mit einer Unnachgiebigkeit, die er bei aller Sanftheit ebenfalls besaß. Er war immer stolz auf seine Herkunft, fühlte sich mit seinen syrischen Landsleuten aber auch oft sehr unwohl, er ärgerte sich über seine Eltern, leugnete diesen Ärger aber, er verbot mir, mich über meine Mutter zu ärgern, verbot mir, mich über ihn zu ärgern, er verlangte von mir endlose Liebe und hing mit endloser Liebe an mir, er hat sich nie damit abgefunden, dass ich von ihm, aus seinem Haus, aus seinem Land, aus seinem Handwerk weggegangen bin, und aus seiner Einsprachigkeit.

***

Erinnerungssplitter:
Ich bin einundzwanzig. Frühstück am Schabbat. Meine Eltern, meine drei kleineren Brüder und ich sitzen um den runden Tisch im Wohnzimmer. Mutter serviert uns allen geschälte gekochte Eier, kleingeschnittene Tomaten, Hüttenkäse und einfachen, mageren Schnittkäse. Die Familie isst schweigend, bis ich ihnen irgendwann erzähle, dass ich vor¬habe nach Paris zu fahren und an der Sorbonne zu studieren. Als sie das hören, schauen alle zu meinem Vater. Er nimmt das Messer, schneidet das harte Ei in Scheiben, und sagt ruhig und beherrscht: „Ich habe dich nicht großgezogen, damit du mich verlässt.“
Zwei Jahre später komme ich aus Paris auf Heimatbesuch. Mein Vater holt mich am Flughafen ab, und auf der Fahrt in die Stadt erzähle ich ihm, dass Joni und ich beschlossen haben zusammenzuziehen. Mein Vater schweigt. Ich versuche wieder, mit ihm über Joni zu reden, doch er wechselt das Thema. Ich frage ihn: „Wie hättest du dich gefühlt, wenn Großvater, als du in meinem Alter warst und mit ihm über Maman reden wolltest, jedesmal das Thema gewechselt hätte?“ Mein Vater schweigt einen Moment, dann sagt er leise: „Du weißt, das ist schwer für mich“, und ich sage: „Ich liebe Joni, und ich habe vor, mit ihm eine Familie zu gründen. Versteh das bitte. Du musst dich entscheiden, was für eine Art von Beziehung zu mir du willst; wir sind erwachsene Menschen. Wenn Du mich nah bei dir willst, wirklich nah, dann musst du dich ein bisschen bemühen.
Nach ein paar Monaten kommt mein Vater tatsächlich nach Paris. Wir gehen zu dritt in ein Restaurant, und die meiste Zeit während des Essens, wagt er es nicht, Joni direkt anzuschauen. Aber das Treffen ist dann doch noch gut und sogar angenehm verlaufen.
Als er in Paris ist, machen wir beide auch einen Ausflug nach Zürich. Die Schweiz hat mein Vater schon immer gemocht. Am Zürichsee bleiben wir vor der Statue von Ganymed und dem Adler stehen. Mein Vater hebt den Kopf und betrachtet den Adler, wie er seinen Schnabel zum Glied des Knaben reckt, der in seiner ganzen jugendlichen Schönheit dargestellt ist, und ich erzähle ihm: „In der griechischen Mythologie war Ganymed ein schöner Jüngling. Zeus sah ihn vom seinem Himmel herab und staunte über die Schönheit des Knaben. Er verwandelte sich in einen Adler, zog einige Runden über ihm, stürzte sich dann auf die Erde und entführte Ganymed!“
Mein Vater schaut mich an, wartet auf die Fortsetzung der Geschichte, und fragt schließlich: „Und was hat er mit ihm gemacht?“
„Er … er war mit ihm zusammen“, antworte ich, und mein Vater nickt schweigend.
Drei Jahre später packen Joni und ich alle unsere Sachen und verschiffen sie in einem Container von Marseille nach Ashdod. Wir kehren nach Israel zurück. Mein Vater bietet mir an, bei ihm im Geschäft als Goldschmiede-Lehrling anzufangen. Keiner meiner Brüder wollte das Handwerk erlernen, und er sagt mir, ich als Ältester müsse das Geschäft und die Ware kennenlernen, um zu wissen, wie ich irgendwann in der Zukunft damit umgehen muss.
Jeden Tag fahre ich auf dem Fahrrad in den Schmuckladen und setze mich an den kleinen Tisch, den mein Vater für mich gebaut hat, und arbeite. Die Aufgaben, die er mich machen lässt, sind, was man Drecksarbeit nennt: das Zurechtsägen und Polieren von Silberbändern (er sagt, es sei noch zu früh, mich mit Gold arbeiten zu lassen) und das Polieren von Ringen mit einem lärmenden, martialischen Gerät, dessen rotierende Bürste die Finger mit schwarzen Flecken übersät, die nachher entsetzlich schwer wegzukriegen sind.
Jedesmal, wenn eine langjährige Kundin den Laden betritt, wirft sie einen kurzen Blick auf mich und fragt dann meinen Vater: „Das ist der Erbe?“
Mein Vater lächelt stolz. „Das ist der Erbe.“
Die Kundin: „Er sieht Ihnen ähnlich. Wie zwei Tropfen Wasser.“
Mein Vater: „Na, dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.“ Beide lachen.
Immer derselbe Dialog.

Nach einem Jahr fahre ich mit Joni in den Ferien nach Brasilien. Als wir irgendwann nach Rio de Janeiro kommen, rufe ich meinen Vater von einem öffentlichen Telefon aus an, erzähle ihm, ich hätte beschlossen, die Arbeit im Schmuckladen aufzugeben und mich ganz dem Schreiben zu widmen.
In den Jahren danach verlassen uns ältere Verwandte, aber nicht nur die Hochbetagten: Meine Mutter verliert ihren einzigen Bruder, der jünger ist als sie und eines Tages tot umkippt; Herzschlag. Die Familie spaltet sich nun in neue Richtungen auf, diesmal auf horizontaler Ebene: Meine Schwester und mein Bruder bringen Kinder zur Welt und richten sich ein, im Land zu bleiben.
Dagegen schweifen Joni und ich unstet und flüchtig durch die Welt. So oft es geht, fahren wir in den Ferien an alle möglichen Orte der Welt, retten uns für eine Weile aus dem Land.
Mein Vater verändert sich mit den Jahren, er wird weicher; jetzt liebt er Joni wie seinen eigenen Sohn. In dieser Zeit veröffentliche ich Bücher, die auf Geschichten meiner Familie beruhen. Vater liest nur ein oder zwei davon, legt sie aber für alle sichtbar im Laden ins Regal.
Joni und ich sind immer wieder in der Welt unterwegs, kehren zum Schluss aber stets nach Israel zurück. Bis die Zeit reif ist für ein zweites Exil.


 

Moshe Sakal was born in Tel-Aviv into a Sephardic-Ashkenazi Jewish Family. He is the author of six Hebrew novels. His latest novel, UNICORN, was published in 2020. Since 2019 he lives in Berlin. Moshe Sakal’s books deal with themes such as exile, immigration, diaspora, border-crossings, queer life and intergenerational relationships. His work has been acclaimed by NBC, Le Monde, and Haaretz. He was nominated twice for the prestigious Sapir Prize, and was awarded the title of Honorary Fellow in Writing by the University of Iowa, the Eshkol Prize for his work, and a Fulbright grant for participating in the International Writing Program in Iowa, USA. The novel THE DIAMOND SETTER was translated into English (Other Press), YOLANDA was translated into French (Stock). www.moshesakal.com

360