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Menekşe Toprak: Déjà-vu – Romanauszug

Menekşe Toprak: Déjà-vu – Romanauszug

Übersetzung: Sabine Adatepe

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1. Kapitel

Ankunft

Als sich der Zug unter Getöse und dem Zischen der Kohlebefeuerung der Stadt näherte, schaute die junge Frau im Erste-Klasse-Waggon aus dem Fenster. Bald ließ das Morgenlicht ihr symmetrisches kleines Gesicht fahl erscheinen, bald verschattete es das reglose Antlitz. Sie schaute hinaus, sah aber weder das am Fenster vorüber fließende Grün noch den zwischen den Bäumen hin und wieder aufblitzenden See. Sonst hätte ihr Blick zweifellos den morgendlichen Vögeln am See gegolten, den Enten, die sie unter den Vögeln am besten kannte, den Störchen ihrer sonderbar grazilen Schönheit auf den am Rand des Schilfs eingeschlagenen Pflöcken standen, auf der großen Gänseschar. Hätte überlegt, ob der Raubvogel, der soeben wie der Blitz ins Wasser getaucht und ebenso schnell mit einem Fisch im Schnabel wieder aufgetaucht war, wohl ein Kormoran war. Hätte sich gefragt, ob auch Möwen am See sind, der sich wieder und wieder hinter dem Wald versteckte, hätte unbedingt das glatte Blau mit der Farbe des Bosporus verglichen, mit dem makellosen Spiegel des Marmarameers bei Windstille. Da jeder Vergleich eine Verbindung darstellt, hätte vermutlich Heimweh sie überfallen, noch bevor sie eine nennenswerte Entfernung zurückgelegt hätte.
Sie war in Gedanken versunken, döste aber nicht. Sie hatte sich an die Quälerei des Zuges gewöhnt, der einem atmenden Wesen glich, das stets an dasselbe Hindernis stößt, ins Taumeln gerät, sich aber fängt und unbeirrt seinen Weg fortsetzt: Im Rhythmus der winzigen Stöße der Eisenbahn ruckte ihr Kopf, kaum nach vorn gefallen, jedes Mal wieder zurück, hinderte sie das Buch, wenn es ihr vom Schoß zu rutschen drohte, mit einer Bewegung der Finger zwischen den Seiten am Herunterrutschen.
Als der Zug klappernd eine scharfe Kurve nahm, schrak sie hoch. Gedankenversunkenheit mochte ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen sein, jetzt aber war sie ganz wach. Das Buch auf dem Schoß hatte sie jetzt fest im Griff, vollauf nahm sie die stechender gewordenen Sonnenstrahlen wahr.
Als sie sich aufsetzte und umschaute, blieb ihr Blick an der Frau und dem Mann auf den Plätzen gegenüber hängen. Die Frau hatte die grauen, in der Mitte gescheitelten Haare zum Knoten geschlungen, die Augen hielt sie auf eine Art geschlossen, als würden sie gleich aufspringen. Stocksteif saß sie da, den Samthut auf dem Schoß, die behandschuhte Hand gleich daneben. Der Mann war blond und jünger als sie. Er schien nicht gewusst zu haben, wohin mit seinen langen Beinen, und hatte sie endlich geschlossen nebeneinander gestellt.
Als der Mann bemerkte, dass sie sich bewegte, richtete er den Blick auf ihren Schoß. Bevor sie das Buch zuschlug und auf den Tisch neben sich legte, nestelte sie aus den hinteren Seiten geschwind das Bändchen heraus und platzierte es dort, wo ihre Finger gewesen waren. Mit leichten Püffen glättete sie die Falten erst der Bluse, dann des Rocks, um sich anschließend der Frau an ihrer Seite zuzuwenden.
Saß in diesem Waggon eine Person, die tatsächlich schlief, dann war es zweifellos ihre ältere Schwester Refike. Die Decke war ihr auf die Hüften heruntergerutscht, ihr Gesicht lag zwischen den auf die Lehnen gestützten Armen verborgen. Aus den Haarspangen geschlüpft, fielen ihr ein paar lange Locken elektrisiert über den Nacken auf die Schulter, einige schlängelten sich über den Hals zur Wange hin. Schwarze Haare, ein schlanker Hals und ein makellos weißer Teint, sie erinnerte an einen Schwan. Ja, Schwanenkopf und -hals hatte sie jetzt eingezogen, da sie schwanengleich schlummerte. Leicht aufgelöst und mit der im Nacken über dem Hemdkragen erkennbaren weißen Haut erweckte ihr Anblick den Eindruck von Intimität und Wehrlosigkeit.
Unwillkürlich streckte sie sich hinüber, fasste die Decke an einem Zipfel und zog sie rasch der Schwester bis zu den Schläfen hinauf. Grob und mit geballten Brauen, sie war wütend. Wütend, weil sie die Blicke des Mannes und der Frau auf sich spürte.
Ihr fiel ein, dass die beiden einige Stunden zuvor zugestiegen waren, es musste an der letzten Station gewesen sein. Im Halbschlaf hatte sie mitbekommen, wie sie die Sitzplätze gegenüber eingenommen hatten, beobachtet, wie sie dasaßen und flüsterten, und gedacht, ihre Sprache ähnele keiner ihr bekannten Sprache. Doch bald darauf hatte sie die beiden vergessen. Denn als hätten sie den Schlaf kurz unterbrochen und bei Anfahrt des Zugs einfach weitergeschlafen, hatten sie nach dem kurzen Flüstern die Augen geschlossen und sich ganz still dem Vergessenwerden anheim gestellt. Das Duo, das einander mit den langen, spitzen Gesichtern und länglichen blauen Augen ähnelte, wirkte harmlos, die Frau trotz ihres fortgeschrittenen Alters nachgerade kindlich und wohlmeinend. Wie von selbst wurde ihr Blick weicher und ein kaum wahrnehmbares Lächeln setzte sich auf ihre Lippen.
Behutsam, um die Schlafende nicht zu wecken, grüßten sie einander, ein scheues Guten Morgen. Als die Grauhaarige ein paar Worte zu ihrem Begleiter sprach und nach draußen deutete, drehte auch sie sich zum Fenster.
Sie fuhren über eine ebenes Gelände in die Stadt hinein. Das dichte Grün lösten nun Gebüsche, Freiflächen, Baustellen und allmählich höher werdende Bauten ab, auf einmal war der Schienenstrang dann schon von Häuserreihen gesäumt. Das Morgenlicht überzog die Scheiben mit Goldstaub, verdunkelte die Fenster. Ein Fenster klappte auf, ein Lappen an einer rundlichen Hand erschien, er schüttelte sich in der Luft, Staub flog, verteilte sich, verwischte. Kurz darauf fielen ihr offensichtlich zum Lüften aufgehängte Kissen und Decken ins Auge und eine rothaarige Frau mit recht fleischigen Armen und Doppelkinn. Führe der Zug nicht, würde sie das Bild ausgiebig betrachten und herauszufinden versuchen, was daran sie so anzog. Doch der Zug entführte sie. Puffkissen, wollene Bettdecken, Wolken, eine mütterliche Frau standen ihr vor Augen. Doch das alles waren nur ihre Gedanken, wurde ihr bewusst. Es hatte gar nichts mit der Frau am Fenster zu tun, kam weit aus der Vergangenheit. Frau Holle, dachte sie kurz, da war der Gedanke bereits wieder entschwunden. Denn nun näherten sie sich der Stadtmitte. Silhouetten von Gebäuden, die sie kannte, tauchten auf, die parallel zu den Schienen verlaufende Straße war dichter und dichter bevölkert. Verkehrspolizisten, Pferdewagen, Kutschen, Reiter und Automobile, diese längst in der Überzahl und schneller als alle anderen, reges Treiben. Sie blickte aufmerksam hin und meinte, am Steuer eines Automobils eine Frau gesehen zu haben.
Aufgeregt wandte sie sich zurück ins Abteil, da rief schon Refike neben ihr: „Liebes, Suat, wir sind ja schon da!“
„Wir sind da, meine Liebe, was hast du lange geschlafen!“, schalt sie die Schwester laut und fröhlich. Euphorisch fuhr sie fort: „In München sind wir eingestiegen, da bist du eingeschlafen, und jetzt ist schon Morgen!“
Refike lächelte nur. Sie hatte sich jetzt wieder im Griff und bereits die für Fremde bestimmte distanzierte Miene aufgesetzt. Der Mann und die Frau gegenüber beobachteten, wie sie die Decke auf dem Schoß zusammenlegte und die Jüngere mit einem nachsichtigen Blick bedachte, gleichsam wie eine Mutter. Was sahen sie? Zwei junge Frauen auf der Strecke München-Berlin. Zwei Ausländerinnen. Mit dem hellen Teint und den zarten Nasen womöglich Slawinnen. Aber welche Sprache mochte das sein? Der Mann fand eindeutig die etwas dunklere Ältere attraktiver, fein und zierlich wie sie war, und den Hals, der tatsächlich an den eines Schwans erinnerte. Vielleicht war es auch ihre Ruhe, die ihm gefiel, vielleicht hielt er ihr besonnenes Schweigen für Schönheit.
Kurz darauf beugte der Mann sich vor und erkundigte sich auf Französisch, welche Sprache sie sprächen. Dabei wanderte sein Blick zwischen den beiden Frauen hin und her. Als suchte er in den dunklen, grünen Augen einen Sinn zu ergründen, fügte er hinzu: „Sind Sie Ungarinnen?“
„Wir sprechen Türkisch“, sagte die Ältere.
„Wir kommen aus Istanbul, wir sind Türkinnen!“, ergänzte die Jüngere.
Erst viel später sollte ihr bewusst werden, wie aufrecht, ja, geradezu herausfordernd sie das gesagt hatte. Rührte die Herausforderung daher, dass ihre Schwester dem Mann gefiel, oder steckte ein anderer Grund dahinter, sollte sie sich dann zudem fragen. Ihr spontanes Gefühl aber war eindeutig. Sie warf den Handschuh hin, weil sie ahnte, dass der Mann diese Antwort nicht erwartet hatte. Ob er wusste, dass der osmanische Staat nicht mehr existierte und das Sultanat abgeschafft war? Dass die Republik ausgerufen worden war und neue Gesetze Frauen und Männer gleichstellten? Ja, dass der Harem lange vor Verkündung der Republik aufgelöst worden war, und dieser Harem ohnehin nicht aus halbnackten koketten Frauen und Konkubinen bestanden hatte, die an opulenten Tafeln tanzten, wie auf den Bildern von Orientalisten?
Der Mann hatte seine Verwunderung allerdings im Nu überwunden.
„Großartig! Ich habe schon viel von Mustafa Kemal Pascha gehört.“
Seine Worte klangen aufrichtig. Ihr fiel ein, wie verärgert sie kurz zuvor gewesen war. Warum hatte sie Refike eben noch zugedeckt, als verhülle sie etwas Ungehöriges? Warum fühlte sie sich nach wie vor in Gegenwart eines fremden Mannes unbehaglich oder aufgerufen, herausfordernd zu reagieren? Dabei hatte sie in Istanbul die Männer, die in ihr Leben traten, stets bezichtigt, allzu „à la turca“ zu sein, hatte selbst als eine der Ersten den Schleier abgelegt, als vor zwei Jahren das Hut-Gesetz herausgekommen war. Sie hatte Fotos machen lassen und in der Illustrierten „Das neue Leben“ geschrieben, die Republik stünde insbesondere der Istanbuler Frau gut zu Gesicht, die moderne Frau habe sich längst gegen die Gefangenschaft in der Finsternis gewehrt und den Tscharschaf aus ihrem Leben verbannt. Das stimmte ja auch. War sie etwa nicht mit offenem Gesichtsschleier durch das Männerspalier den Hang der Bâb-ı Âli-Straße hinaufspaziert und in der Redaktion der Zeitschrift stets aufrecht gegangen mit selbstbewusstem Klappern der Absätze? Und da war sie noch nicht einmal achtzehn gewesen.
Aber jetzt?
Hätte ich nur Papier und Feder zur Hand, dachte sie, und könnte die flammenden Gedanken in Sätze gießen. Diesen einen Satz darf ich auf keinen Fall vergessen: Das vieltausendjährige Ducken findet doch seinen Weg und hockt sich noch der freiesten Frau unvermutet auf den Buckel.
Da lief der Zug bereits im Anhalter Bahnhof ein, es blieb keine Zeit mehr, weder zum Nachdenken noch zum Diskutieren. Jetzt würden sie eilig die Hüte aufsetzen, die Mäntel überziehen, die Handschuhe überstreifen, sich für die Außenwelt zurechtmachen, und zwar ohne Gedanken daran, dass ein fremder Mann zugegen war. Sie würden aus dem Zug steigen, ihre Wege würden sich trennen, bevor sie Bekanntschaft geschlossen hätten.
Die grauhaarige Dame beugte sich vor und sagte aufgeregt etwas zu ihrem Begleiter. Da sah sie, dass die Frau unterwegs die Schuhe abgestreift hatte und jetzt, unmittelbar vor dem Aussteigen, der eine sich partout nicht wiederfand …

Der Zug hielt auf eine Weise als imitierte er die Wesenszüge seines Erfinders. Kaum in der Haltestelle eingelaufen, stieß er einen langen Pfiff aus, wie um ausgiebig Atem zu schöpfen, bevor er vollständig zum Stehen kam. Als der Zug hielt, hielten auch sie inne, deren Leiber sich an Rhythmus und Stottern der Maschine gewöhnt hatten, aufmerksam lauschten sie der Stille, suchten naturgemäß nach dem Gewohnten, um gleich darauf in Betriebsamkeit auszubrechen.
Das Köfferchen in der einen, die Handtasche in der anderen Hand machte Suat sich bereit, mit der Schwester gemeinsam das Abteil zu verlassen, linste aber zugleich nach der Miene der grauhaarigen Dame, die endlich ihren Schuh gefunden hatte und noch im Sitzen hineinzuschlüpfen versuchte. Doch das Gesicht der Dame blieb unter ihrem Glockenhut verborgen. Den Fédora in der Hand stand der Mann nahezu gebückt daneben. Die beiden Schwestern vorbeizulassen bereitete seiner wuchtigen Gestalt offenbar Mühe. Auf seine Stirn über den kräftigen Brauen traten Schweißtropfen, die wie Furchen anmuteten.
Als Suat auf den Gang hinaustrat, fiel ihr der Ehemann ein, von dem sie gerade einmal seit einem Monat geschieden war. Beim Besteigen des Orient-Express im Bahnhof Sirkeci hatte sie ständig an ihn und die gescheiterte Ehe denken müssen, doch je weiter sie sich von Istanbul entfernte, verblassten ihre Gedanken ebenso wie die Gesichter der Zurückgelassenen. Wie hätte sie eine Beziehung fortsetzen können, wenn die Leidenschaft erloschen war und sie sich in der Liebe getäuscht hatte, wie hätte sie einen Ehemann ertragen sollen, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht mehr liebte? Wochenlang hatte sie ihm die Unmöglichkeit ihrer Ehe vor Augen geführt und ihn zu überzeugen gesucht. Als es ihr endlich gelang und sie den Scheidungsbrief von ihm erhielt, staunte sie, wie einfach es letztlich war, und war zugleich wütend darüber. Es war nicht Wut allein, was sie empfand, es war auch das Gefühl der Niederlage. Darüber, dass die Entscheidungen über das Leben einer Frau, von der wichtigsten bis zur winzigsten, von den Worten eines Mannes abhingen.
Sie mochte nicht länger darüber nachdenken, seufzte gequält, warf einen Blick auf die Schwester hinter sich, die verträumt vor sich hin blickte, wendete sich wieder um und schaute durchs offene Fenster auf den Bahnsteig hinaus. Auf einmal fühlte sie sich erleichtert. Durch das Fenster drang das Bahnhofsgebrause herein und eine schrille Stimme, die es übertönte. Ihre Augen huschten über die Röcke, Hosen, Mützen, Hüte und Leiber der Passanten und machten schließlich den Besitzer der Stimme ausfindig. Ein Zeitungsjunge, er rief die Vossische Zeitung aus.
Sie stiegen aus. Refike hielt die Gepäckbillets in der Hand, die ihnen beim Umstieg in München ausgehändigt worden waren. „Wir müssen die Koffer holen, Suat!“ Doch Suats Ohren waren bei dem Zeitungsjungen, der, wie sie vermutete, rief: „Neueste Nachrichten! Neueste Nachrichten!“ Während Refike zwei Gepäckträger heranwinkte, wandte sie sich dem Zeitungsjungen zu.
Als der Junge kurz darauf mit dem Bündel Zeitungen, unter dem er beinahe verschwand, vor ihr stand, erschrak Suat. Sie wusste nicht, wie sie den Jungen anreden sollte, ihr wurde klar, dass sie kein Wort Deutsch herausbringen würde. Doch ihr Gegenüber war ein geborener Verkäufer, aufgeweckt, mit quicklebendigem Blick. Sein von Sommersprossen übersätes Gesicht unter der Schirmmütze spiegelte den Ausdruck eines reifen, erwachsenen Mannes. Ohne Gruß hatte er der zierlichen Frau mit den grünen Augen bereits eine Zeitung in die beige behandschuhten Finger gedrückt.
„Fünfzehn Pfennige, gnädige Frau!“
Sie stellte das Leichtgepäck ab, kramte in der Handtasche nach Münzen, rieselte sie dem Jungen in die Hand, schlug das Blatt auf, ohne noch auf das Wechselgeld zu warten, bemerkte nicht einmal den Dank des Jungen. Rasch sprang ihr Blick von Überschrift zu Überschrift, beim Lesen übersetzte sie sogleich. Weltwirtschaftskonferenz in Genf … Auch Moskau nach Genf geladen … London stimmt China zu … Kampf gegen Mechanisierung unabdingbar … Tauentzienstraßen-Dieb gefasst … Doktor Oetkers Puddingpulver …
Auf Seite sieben hielt sie inne. „Brief aus Istanbul“ stand über der Seite, ihr fiel zuerst die Schwarzweißfotografie ins Auge. Sie. Wie jung sie auf dieser vor drei Jahren im Studio Kirkor in Istanbul angefertigten Aufnahme wirkte! Und obwohl ihr das Foto gar nicht gefallen hatte, als sie es damals zum ersten Mal gesehen hatte, fand sie ihr Gesicht jetzt schön.
„Die Gotteslästerer“, las sie über dem Namen Dr. Wilhelm Feldmann, „Die auch in Deutschland bekannte Schriftstellerin Suad Derwisch Hanum ist wegen Gotteslästerung verurteilt worden.“
Sie faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie unter den Arm. Als sie den Kopf hob, traf sie den Blick zweier Personen. „Ob die mich erkannt haben?“, fragte sie sich. „Ach woher denn, ich übertreibe. Hielten sie das Mädchen auf dem winzigen Bild in Schwarzweiß neben die von der Reise erschöpfte Frau mit den geschwollenen Gelenken, würden sie unmöglich eine Ähnlichkeit feststellen.“

Als sie kurz darauf mit Refike hinter den beiden Trägern, die ihr Gepäck geschultert hatten, die Treppen hinunterstieg, schäumte sie über vor Freude. Im Nu hatte sie der Schwester erzählt, dass ihr Journalistenfreund Feldmann in Istanbul Wort gehalten und dafür gesorgt hatte, dass der Bericht, den er über sie hatte schreiben wollen, ausgerechnet an diesem Tag erschien. Refike wirkte müde, Suat war nicht sicher, ob sie im Bahnhofsgetöse ihre Worte überhaupt gehört hatte. Doch das war nicht von Belang. Sie war froh und ohne alle Erwartungen. Sie beobachtete die Leute, vor allem die Frauen. Die Damenmode hatte sich gewandelt, die Rocksäume waren nach oben gerutscht, das Haar unter den Cloche-Hüten kurzgeschnitten. Sie eilten einher wie Männer, hatten Aktentaschen dabei, offensichtlich bestrebt, pünktlich ins Büro zu gelangen. Im Vergleich zu ihrem Besuch vor zwei Jahren schienen ihr auch weniger Bettler und Kriegsversehrte im Straßenbild zu sein. Stattdessen waren da jetzt junge Männer in grauen Uniformen, die an Pfadfinderkluft erinnerten. Am Ärmel trugen sie rote Binden mit Hakenkreuz.
Als Suat die Menschen musterte, fühlte sie sich, als feiere sie einen Triumph: Ihre Augen lächelten strahlend, als hätte sie nicht erst kurz zuvor das Gefühl der Niederlage gedrückt, selbstbewusst presste sie die Zeitung in der Armbeuge an sich.

 


 

Menekşe Toprak schreibt Erzählungen und Romane auf Türkisch, liest aber auch gerne auf Deutsch. Ihr Buch »Ağıtın Sonu«, das mit dem renommierten Preis »Duygu-Asena-Romanpreis« ausgezeichnet wurde, erschien unter dem Titel »Die Geschichte von der Frau, den Männern und den verlorenen Märchen« beim Berliner Orlanda Verlag. Ihr letzter Roman »Arı Fısıltıları« (»Das Flüstern der Bienen«) wurde 2020 mit dem Literaturpreis der Universität Ankara ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie das Arbeitsstipendium der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa für Literatur in nichtdeutscher Sprache. Seit 2002 arbeitet sie als freie Autorin und Radiojournalistin in Berlin und Istanbul.

 

 

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