Ist das Sehen die Widerspiegelung des Fühlens?

Teppichknüpferinnen wollen normalerweise als Motiv durch eine Spiegelung den Himmel oder auch die innere Seite einer Kuppel abbilden, damit Menschen, die auf diesem Teppich stehen, das gleiche Gefühl erleben, wie in einen Himmel oder in eine große Kuppel zu blicken. Wenn sie diesen Teppich bewusst für den Export nach Europa geknüpft hatten, dann wollten sie auch zusätzlich das spezielle Gefühl, unter einer persischen Kuppel zu stehen, vermitteln. Die Kuppel wiederum sollte auch den Himmel repräsentieren, das bedeutet eine mehrmalige Widerspiegelung. Aber kann man dieses Gefühl, kann man überhaupt etwas rein durch das Sehen tatsächlich erleben? Wird auch das Leid des Menschen, der seit ein paar Jahrhunderten sämtliche Paläste in Europa mit Teppichkunst ausstattet, sichtbar? Wohl kaum. Dass diese Künstlerinnen selbst nie in der Lage sein werden, so einen Teppich zu kaufen, sollte auch erwähnt sein.

Den auf dem Foto abgebildeten second hand Teppich habe ich kürzlich in Wien erworben. Gerade liegt er noch bei mir im Wohnzimmer, bevor ich ihn demnächst meiner Mutter nach Australien schicken werde. Der Teppich stammt übrigens aus Ghom: Irans Vatikan oder der Vatikan der Schiiten. Dort werden die religiösen Vorschriften strenger eingehalten als woanders im Land. Öffentliche Auspeitschungen, Exekutionen finden nach wie vor statt, früher auch Steinigungen.

Vielleicht sitzen einige der Teppichknüpferinnen gerade auf Moria, weil sie vor dem iranischen Regime und dem Elend im Iran fliehen mussten. Einlass nach Europa erhält ihre Kunst, aber nicht sie selbst? Ja zur Ausbeutung des Landes, aber Einlass der dazugehörigen Menschen nach Europa gibt es nicht? Meine Ahnen, egal ob friedlich oder gewaltvoll gestorben, auf der Erde, die sie gehen und sterben gesehen haben, werden ohne ihr Einverständnis aus dem Grab gerissen und in den Museen Europas ausgestellt. Ihre Kunst, ihre Bücher, ihre Kleider, ihre Teppiche, ihre Ornamente und Gedanken. Eigentlich wollten sie doch auf ihrer Erde bleiben. Aber die Lebenden, die fliehen, die will man nicht. Die österreichische Regierung bleibt dabei: Hilfe soll vor Ort geleistet werden. Gleichzeitig wird Symbolpolitik auf Social Media betrieben, in der Mitgefühl v. a. mit Kindern und Frauen in den Lagern der griechischen Inseln betont wird. Sie sollten vielleicht solange abwarten, bis sie tot und museumstauglich sind, dann bringt man sie auch nach London, Paris oder auch Wien. Jetzt aber gilt es leise zu sein und versteckt zu leiden.

Wenn Leute etwas über Moria auf Social Media posten, wollen sie ein Gefühl bei uns erzeugen. Funktioniert die Widerspiegelung so wie beim Teppich? Wohl im Endeffekt genau so wenig.