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Dang Lanh Hoang: Die Fünf-DM Münze

Dang Lanh Hoang: Die Fünf-DM Münze

Übersetzung: Dang Lanh Hoang

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Es war Sommer 1989, auf dem S-Bahnhof Schöneweide.
Ich wartete auf meinen Zug zum Alexanderplatz, als eine junge Frau zu mir kam. „Wo Taxi?“, fragte sie mich. Nicht gleich, aber ziemlich schnell begriff ich, dass vor mir eine Frau aus Polen stand und dass sie von mir wissen wollte, wo sie ein Taxi finden konnte. „Na, draußen! Am Eingang, links! Dort gibt es Taxis.“ Die Frau drehte sich um und ging zu einer anderen, sichtbar älteren Frau, die auf dem Bahnsteig, mit mehreren Koffern und Taschen bei der Treppe stand und auf sie wartete.
Damals durften Polen nämlich nach West-Berlin fahren; es gab dort, soviel ich wusste, sogar einen Polen-Markt, wo man Geschäfte machen konnte. In jener Zeit waren Polen, Frauen oder Männer, überall in Ost-Berlin zu sehen. Auf Bahnhöfen wie dem damaligen Hauptbahnhof (also jeztzigen Ostbahnhof) oder dem Bahnhof Friedrichstrasse waren Züge voll mit polnischen Bürgern, die mit all möglichem Gepäcken zwischen Warschau und West-Berlin hin und her pendelten, vor den teils ärgerlichen, teils neidischen Augen von nicht wenigen Bürgern der brüderlichen DDR.
Wie es die beiden Frauen geschafft hatten, so viele Koffer und Taschen bis hierher, zum Bahnhof Schöneweide, zu schleppen, war wirklich ein Rätsel. Aber war es mir sofort klar, dass sie beide es nicht schaffen würden, alle ihre Sachen die Treppe hinunter und dann durch den langen unterirdischen Fußgängertunnel des Bahnhofes bis zur Taxistation am Eingang zu tragen. Sie schienen so hilflos zu sein, guckten herum, verzweifelt auf Hilfe von eilig vorbeilaufenden Fahrgästen hoffend.
Es ist häufig so in Berlin. Wenn man unterwegs ist, achtet man nur noch auf die Fahrpläne, um seinen Bus, seinen Zug, seine Straßenbahn nicht zu verpassen. Auf Bahnsteigen, an Haltestellen, im Bus oder in der S-Bahn vertieft man sich in eine Zeitung, in ein Buch oder in die eigenen Gedanken, so dass man keine Zeit hat, seine Umgebung wahrzunehmen und irgendwas um sich herum zu registrieren. Abgesehen davon war die Zeit im Sommer 1989, vielleicht für alle Menschen auf dieser Welt, aber insbesondere für die, die damals in Berlin, in der DDR, in Deutschland lebten oder sich dort nur für kurze Zeit lebten oder gar nur durch diese Stadt fuhren, eine besondere Zeit. Außer zahlreichen Polen standen auf den Bahnhöfen auch viele junge Leute, mal einzelne, mal kleine Grüppchen mit riesigen Rucksäcken auf ihren Rücken. Ein Witz machte damals die Runde: Die Berliner wollen nicht mehr mit U- und S-Bahn fahren. Warum? Um diesen Ruf „Zurück … bleiben!“ nicht mehr hören zu müssen. In der Luft lag irgendwas noch Unerklärbares, eine seltsame Mischung aus Sorgen, Angst, Ärger, Unzufriedenheit aber auch viel Freude, Hoffnung, Genugtuung … Vielleicht hatte man auch deswegen noch weniger Zeit für sich und für seine Umgebung, man war immer in Eile, als ob man versuchte so schnell wie möglich weg von der Straße, rasch in seine Wohnung, in die vier Wände seiner Nische, zu gelangen.
Ich hatte aber Zeit, nach meiner Arbeit erwartete mich niemand und nichts in dieser Ein-Zimmer-Wohnung des Akademie-Gästehauses, außer langweiligen, höflichen aber nichtssagenden Gesprächen mit dem Herrn Hausmeister oder den Nachbarn des Gästehauses. Abgesehen davon, dass ich mehrere Jahre meiner Kindheit in Warschau verbracht hatte, hatte ich auch sonst einige Sympathie für Polen. Als Bürger von Händler-Nationen und Möchter-Gern-Großmacht-Ländern verstehen sich Vietnamesen und Polen sowieso irgendwie ganz gut. Obendrein sah die kleine, jüngere Frau, die mich angesprochen hat, gut aus, blond, ländlich schön, schüchtern wirkend …
Ich ging schnell zu beiden Frauen und sagte: „Warten Sie! Ich komme mit; ich zeige Ihnen, wo die Taxis stehen!“ Zu dritt hatten wir es schließlich geschafft, zwar mit Mühe aber schnell, alle ihr Gepäck zum Taxi zu tragen. Nachdem der Taxifahrer schweigend, nicht gerade freundlich, ihr Gepäck verstaut hatte, verabschiedete ich mich von ihnen. Die beiden Frauen stiegen und ich ging in den Bahnhof zurück. Die junge Frau war schon in dem Taxi, doch dann stieg sie schnell wieder aus und rannte mir hinterher. Beim Bahnhofseingang erreichte sie mich, und während sie schnell sagte „Djenkujie! Danke!“, steckte sie mir irgendwas in meine obere Hemdtasche. Ich konnte noch nicht so richtig begreifen, was das war und was sie eigentlich wollte, da lief sie schon wieder zurück zu dem Wagen und stieg schnell ein. Weg war das Taxi.
Es war eine Münze, mit einem Adler drauf. Im ersten Moment hatte ich gedacht, dies wäre eine polnische Münze, Złoty. Sozusagen zur Erinnerung?! Seltsam! Aber zu Hause guckte ich mir die Münze genauer an und entdeckte endlich: Das war doch eine 5-DM-Münze; auf einer Seite stand 5 Deutsche Mark, auf anderer – Bundesrepublik Deutschland. „Na ja, sie wollte dich eben für deine Dienstleistung belohnen. Wie nett!“ habe ich mir lächelnd gedacht.
Schwarz, bei Angestellten unserer Botschaft oder bei meinen Landleuten, die damals dort, ungefähr wo sich jetzt das Kino Cubix befindet, am Alexanderplatz, am Eingang zur Rathauspassage, standen und mit Westgeld spekulierten, wäre die Münze etwa 50 DDR Mark wert gewesen. Im Intershop am Palasthotel – heutzutage thront triumphal an dieser Stelle der sogenannte AquaDom – war sie aber fast wertlos. Ich wagte nicht einmal, sie dort zu zeigen. Vielleicht konnte man dort mit 5 DM gerade mal einen Kaugummi kaufen. Die Münze ist mir deswegen treu geblieben und nicht viel später, wer hätte das gedacht, hat sie mit mir auch die womöglich bewegendeste Zeit der jüngsten deutschen Geschichte erlebt: den Berlin-Besuch Gorbatschows zum 40. Jahrestag der DDR, die Woche für Woche größer werdenden Montagsdemos in Leipzig, die großartige Kundgebung, mit über einer halben Million Menschen am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz und schließlich den Mauerfall am 9. November 1989 …

Die Mauer war schon fünf Monate gefallen, als ich, einer Einladung von einem Kollegen folgend, im März 1990 zum ersten Mal nach West-Berlin gefahren bin, um ihn und seine Arbeitsgruppe im Fritz-Haber-Institut in Dahlem zu besuchen. Diese erste Reise nach den Westen, also Kudamm, Bahnhof Zoo, Gedächtniskirche … hat mich erstaunlicherweise nicht so besonders beeindruckt, wie ich erwartet hatte. Ich kann mich an fast nichts mehr von diesem Tag erinnern, außer dem Gefühl der Freude, der Aufregung, insbesondere bei dem Grenzübergang am S-Bahnhof Friedrichstrasse. Es gab aber eine kleine Geschichte, die ich nicht vergessen habe und die mich bis zum heutigen Tage bewegt.
Nach dem Besuch in Dahlem fuhr ich mit der U-Bahn zurück zum Bahnhof Zoo und lief langsam zur Gedächtniskirche. „Von hier rufst du Freunde an“ habe ich mir gedacht. „Du bist immerhin zum ersten Mal in West-Berlin“. Ulrike, eine Freundin vom mir, wohnte damals nicht weit von der Mauer entfernt, aber im Ostteil von Berlin. Ich hatte jedoch kein Westgeld, außer dieser 5 DM-Münze, die Belohnung der jungen Polin von damals, in meinem Portemonnaie. Nach kurzer Überlegung hatte ich eine ältere, gut angezogene und vornehm aussehende vorbeilaufende Dame gefragt:
– Entschuldigen Sie bitte! Ich komme von drüben, und ich möchte so gern von hier nach Hause telefonieren. Würden Sie so nett sein, mir 5 Mark zu wechseln?
Die Dame hatte mir nicht gleich geantwortet. Mit einem kalten, sehr kalten, Blick guckte sie mich ein paar Sekunden von oben nach unten an und langsam, sich beherrschend, mit kaum bewegten Lippen, sagte sie:
– Ich bin aber von hier! Und ich möchte nichts mit euch von drüben zu tun haben!
Dann ging die gnädige Frau weiter – ruhig, langsam, stolz, ohne Aufregung, wie ein Sekretärsvogel aus dem nahe gelegenen Zoo. Ich schaute ihr erstaunt hinterher und dachte: „Ha! Denkste! Würde wirklich jeder mit Dir diese Freude teilen, endlich von hier nach drüben telefonieren zu können?“.
Mein Problem mit der 5 DM-Münze wurde ein paar Schritte weiter, dank der freundlichen, schnellen und unbürokratischen Hilfe eines türkischen Gemüse- und Obst-Händlers problemlos gelöst.


 

Dang Lanh Hoang wurde 1948 in Vietnam geboren, arbeitete in den 70er Jahren als Chemiker und Hochschullehrer in Vietnam und kam 1988 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralinstituts für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR nach Berlin. Bis zu seinem Ruhestand 2014 war er als Chemiker beschäftigt. Er übersetzt deutschsprachige Literatur ins Vietnamesische (u. a. Thomas Bernhard, Eugen Ruge). 2021 publizierte er »Mauerfälle. Geschichten eines vietnamesischen Berliners«.

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