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Radka Franczak: Walstunden

Radka Franczak: Walstunden

Übersetzung: Marlena Breuer

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Während ich diese Worte heute schreibe, drei Jahre später, sitze ich im Zug. Draußen geht langsam der herbstlich-winterliche Tag zu Ende. Den ganzen Tag schien die Sonne hell und intensiv, doch gerade eben ist sie plötzlich in den dichten Wolkenbausch am Horizont eingetaucht. Obwohl es noch zwei oder drei Stunden hell sein sollte, ist damit die Dämmerung gekommen, ein Licht ohne Licht, tote Luft, grau wie vermummte Gestalten. Der Zug fährt aus dem Wald in weite Wiesenflächen hinein, über denen dichte Nebelschwaden liegen. Der Zugführer drosselt die Fahrt etwas, als wolle er das Tempo der schweren Luftfeuchtigkeit anpassen. Wir nähern uns einer riesigen Eiche, die direkt neben den Gleisen steht. Auf der linken Seite hat wohl irgendwann ein Blitz in den Baum eingeschlagen – die Äste strecken sich mit schwarzen, nackten Stümpfen zu den Wiesen hin. Rechts sitzen noch die letzten vergilbten Blätter an den gesunden Zweigen. Auf einem der geschwärzten Arme des Baumes bemerke ich einen Vogel. Mit dem Rücken zum Zug sitzt er da. Er ist groß, aufgeplustert, als würden seine Federn die kondensierte Feuchtigkeit aufsaugen, die Atmosphäre der kommenden Nacht und präziser Angriffe.
Der Zug wird noch langsamer und ich kann den Vogel genau beobachten.
Er ist ganz der Welt vor ihm zugewandt, dem in Zwielicht getauchten fernen Raum. Von dem hinter ihm vorbeifahrenden Zug lässt er sich nicht behelligen, blickt einfach nach vorn, weiß sicherlich, was hinter ihm geschieht, doch das stört ihn nicht bei dem, was er mit seinem ganzen Wesen ist, als er einsam auf das Bild der Welt in der Stille sieht.
Ich, im Rahmen des Zugfensters eingefroren – so kommt es mir vor –, starre ihn gierig an und sehe dabei etwas, dem man nicht jeden Tag begegnet, etwas für uns Menschen fast Unmögliches: den intimen Augenblick eines wilden Vogels.
Könnte ich seine Augen sein? Verstehen, was er sieht? In einen Zustand eintreten, das zu sein, was ringsum ist. Stille? Achtsamkeit? Ich richte den Blick wieder auf das, was er sieht, auf den dunkler werdenden Nebel und die in dieser Welt versunkenen Wiesen.

DIE GEBURT

Ihr Herz pochte stark unter dem Druck des Blutes, sie richtete sich auf, aber gleich krümmte sie sich wieder und drehte sich um ihre eigene Achse. Das Wasser um sie her war von den Geräuschen der anderen in Schwingung gebracht, es vibrierte, das ganze Riff zitterte von der Kraft, mit der der Wal geboren wurde. Plötzlich spürte sie ein anderes, entfernteres Rufen, sie drehte sich, abrupt, erregt von der beispiellosen Sehnsucht nach dieser Stimme, es kam ihr vor, als würde sie sie gut kennen, doch dann bewegte sich auch das Junge in ihr mit aller Kraft, brach sich mit einem durchdringenden Schmerz Bahn und floss in einer Wolke rosa Blutes aus ihr heraus.

Sie spürte ihr eigenes warmes Blut um sich herum, seinen Geruch, den Eisengeschmack.

Die rote Wolke umhüllte das Junge für einen Moment, und die anderen schwammen näher, wollten helfen, aber das Junge durchbohrte die Wolke energisch und stieß sich nach oben – zum Licht, zur Welt, zu ihr.

Sie schob es sanft mit der Schnauze aus dem Wasser.

Ein Sonnenstrahl durchbrach die nasse, schwere Wolkenschicht über dem Ozean und beleuchtete sanft die Augen des kleinen Wals, das Licht drang tiefer in den Ozean ein und das Riff erstrahlte in Farben und Gesang. Die Wale nahmen das Lied auf, sie wiederholten es harmonisch und schufen damit den Namen des Neugeborenen, dieser Name ging weiter, eilte über Unterwasserberge, einen tiefen Graben, über eine Ebene, ein Schelf, Vulkane, er fiel mit den plätschernden Wellen auf den Sand.

Und so schoss der Klang durch die Welt, der heilige Walgesang verbreitete sich im Unterwasserreich, er durchdrang jedes Lebewesen mit seiner Schwingung: C a r d h u, C a r d h u.

Sie trieb müde zwischen den riesigen Körpern ihrer Tanten, dicht am Schwanz ihrer Mutter, döste und sprang nur gelegentlich instinktiv hoch, um den Atembewegungen der Herde zu folgen. Für den Bruchteil eines Augenblicks, so kurz wie möglich, lehnte sie sich aus dem Wasser, neugierig auf die plötzliche Stille, die andere raue Welt, aber dann schwamm sie wieder in die Tiefe, gleich neben dem mächtigen Körper ihrer Mutter.
Luftblasen stiegen um sie herum auf und leuchteten in einem seltsamen, inneren Licht.
Über und unter ihr eröffnete sich ein blauer Raum, angefüllt mit weichem, gurgelndem Wasser und Tausenden kleinen Geräuschen. Die Stimmen ihrer Mutter, ihrer Tanten vibrierten durch ihren Körper.

Hier war sie, die neugeborene Waltochter.

 


 

Radka Franczak wurde 1977 in Slupsk, Polen, geboren. Sie studierte Schnitt und Neue Medien an der polnischen Filmhochschule in Lodz und an der Andrzej Wajda Schule in Warschau. Sie lebt seit 2011 in Berlin, wo sie als Dokumentarfilmemacherin und Schriftstellerin arbeitet. Radka Franczaks Debütroman „Serce“ („Das Herz”) erschien 2016 und war 2017 auf der Shortlist für Nike, den wichtigsten polnischen Literaturpreis, sowie den Literaturpreis Gryfia. Für ihre Regiearbeiten, den kurzen Dokumentarfilm „Stiepan” und dem Dokumentarfilm „Losing Sonia“ (50min), erhielt sie mehrere Auszeichnungen.

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