Kenny Fries: »Das Verhalten der Delinquenten«
Das Verhalten der Delinquenten
Aus dem Englischen von Hannes Koberg
Im Herbst besuchte ich zum ersten Mal die Tötungsstätte der Aktion T4 in Brandenburg an der Havel. Mein Ziel, der Ort, an dem 9.000 behinderte Menschen im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms ermordet wurden, ist eingebettet in das Leben der Stadt – Straßenbahnen und Busse, Geschäfte, eine Bank, ein Café.
Die Gebäude des ehemaligen Gefängnisses wurden während des Krieges weitestgehend zerstört. Wären da nicht die dunkelgrauen Buchstaben auf der einen Seite des hellgrauen Gebäudes – GEDENKSTÄTTE auf der einen Seite und die englische Übersetzung MEMORIAL auf der anderen –, könnte man leicht an dem Ort vorbeigehen, ohne ihn zu bemerken. Aus der Ferne sieht es aus wie ein Fertigbau, ein Provisorium, vielleicht eine Ad-hoc-Erweiterung für eine überfüllte Schule oder eine städtische Abteilung.
Obwohl es Oktober war, dachte ich an den Winter. Viktor Brack – der Wirtschaftswissenschaftler, SS-Offizier und Leiter des Büros der Kanzlei des Führers, der für die Aktion T4 verantwortlich war – sagte im Nürnberger „Ärzteprozess“ 1947 aus, dass der erste der Massenmorde an behinderten Menschen „im verschneiten Brandenburg an einem Wintertag im Dezember 1939 oder Januar 1940“ stattfand. Das genaue Datum dieser „Probevergasung“ ist noch nicht geklärt.
Von der „Probetötung“ sind keine Dokumente erhalten geblieben. „Wer die dabei ermordeten Menschen waren und woher sie kamen, ist unbekannt“, heißt es in der Gedenkstätte. Was bekannt ist, stammt in erster Linie aus Nachkriegsaussagen derjenigen, die an diesem Tag beteiligt waren oder deren Beteiligung man annimmt.
Anders als beim Holocaust gibt es bei T4 keine Überlebenden. Wir wissen über T4 und seine Folgen hauptsächlich aus medizinischen Aufzeichnungen und von den Tätern. Die Aktion T4 hat weder einen Elie Wiesel noch einen Primo Levi.
Das ist der Hauptgrund, warum ich darüber schreibe, was behinderten Menschen im Dritten Reich widerfahren ist. Ich möchte das sein, was Susanne C. Knittel und andere Wissenschaftler einen „stellvertretenden Zeugen“ nennen. Nach Knittel bedeutet dieser Akt des Bezeugens nicht „für einen anderen zu sprechen und sich so dessen Geschichte anzueignen, es ist vielmehr ein Versuch, ein Schweigen mit narrativen Mitteln zu überwinden.“ [1] Dies ist meine Art, das Schweigen zu überbrücken, etwas lebendig zu halten, das zu oft vergessen wird.
Es überrascht mich nicht, dass manche der Aussagen der Täter widersprüchlich sind. Dr. Irmfried Eberl, der ärztliche Leiter in Brandenburg, nennt in seinem Tagebuch den 18. Januar 1940 als Datum der „Probevergasung“. Dr. Horst Schumann, von dem wir wissen, dass er bei diesem Ereignis anwesend war, befand sich jedoch an diesem Tag in Grafeneck, wo er die Massentötungen beaufsichtigte, von denen die erste am 18. Januar stattfand. Ein anderer T4-Mitarbeiter sagte, die Ermordung der Patienten in Grafeneck habe „etwa 14 Tage“ nach der „Probetötung“ in Brandenburg begonnen. Es scheint, dass Eberl die Daten der beiden Tötungen verwechselt hat.
Nach seiner Verhaftung 1959 gab der Psychiater und medizinische Leiter des T4-Programms Werner Heyde an, dass die „Probevergasung“ Anfang Januar 1940 stattfand. Heyde gestand, nur ein Beobachter gewesen zu sein.
Der Deutsche Wetterdienst verzeichnet den ersten größeren Schneefall des Winters 1939/40 in Brandenburg in der Silvesternacht 1939; der Dezember war relativ trocken gewesen. Brack äußerte sich in seiner Zeugenaussage sehr deutlich über den Schnee, der in Brandenburg am Tag der „Probevergasung“ auf dem Boden gelegen hatte. Daraus lässt sich schließen, dass der erste Brandenburger Massenmord in den ersten Januartagen des Jahres 1940 stattfand.
Obwohl das genaue Datum etwas spekulativ ist, sprechen die Worte der Verantwortlichen für die Ermordung von 70.000 behinderten Menschen im Rahmen der Aktion T4 und der 230.000, die nach dem offiziellen Ende des Programms getötet wurden, eindeutig für die Hauptursache der Geschehnisse: die Abwertung behinderten Lebens. Die Eugenik, die vor und während des Reiches weit verbreitet war, lieferte die Grundlage für die Tötungen, indem sie behinderte Menschen als nicht menschlich stigmatisierte.
Dr. Albert Widmann, Chemiker, Kriminaltechniker und Leiter der chemischen Abteilung der Reichskriminalpolizeizentrale, sagte aus, dass er gebeten wurde, Gift in großen Mengen zu beschaffen. Bei einem Treffen mit einem nicht identifizierten Vertreter der Kanzlei des Führers fragte Widmann: „Wozu? Zum Töten von Menschen?“
„Nein“, war die Antwort. „von Tieren in Menschengestalt.“
Es war der Polizeichemiker Dr. August Becker, der das Kohlenmonoxidgas vorbereitete für das, was er „Euthanasie-Experiment“ nannte. Als Zeuge in den 1960er Jahren gab Becker auch eugenische Darstellungen von Menschen mit Behinderung wieder. Er erinnerte sich daran, wie er durch das Guckloch der Gaskammer schaute und „das Verhalten der Delinquenten“ beobachtete, während das Gas die Kammer und die Lungen der Opfer füllte. In Beckers Darstellung werden behinderte Menschen mit dem Unmoralischen und Illegalen gleichgesetzt.
Becker beschrieb die Gaskammer detailliert als einen Raum, „ähnlich einem Duschraum und mit Platten ausgelegt, in der Größe von etwa drei mal fünf Meter und drei Meter hoch“. Nach Beckers Angaben wurden zwischen 18 und 20 Patienten vom Pflegepersonal in diesen „Duschraum“ geführt. Die Männer mussten sich „in einem Vorraum ausziehen, so dass sie vollkommen nackt waren“. Becker wies auf Widmann als denjenigen hin, der „die Gasanlage bediente“. Doch Widmann stritt stets ab, daran beteiligt gewesen zu sein.
Richard von Hegener, stellvertretender Leiter der Tötung behinderter Kinder, nannte bei seiner Vernehmung 1947 „den zuständigen Chemiker Dr. Becker“ als die Person, die „das CO-Gas in den Raum ließ“. Von Hegener sagte, es seien „30 Kranke nur in Anstaltskleidung“ bekleidet gewesen, die hineingeführt wurden und „auf den Bänken in dem Raum ohne irgendwelchen Widerstand ruhig Platz nahmen“. Heyde gab an, es seien „10, allerhöchstens aber 15 – die Zahl liegt mehr bei 10 – Geisteskranke“ gewesen. Er sagte: „Ich weiß wirklich nicht, wer das Gas eingeleitet hat.“
Laut Brack gab es vier solcher „Geisteskranken“, alles Männer, die er mit einem weiteren eugenischen Wink als „unheilbar“ bezeichnete. Auf die Frage, wie alt sie waren oder aus welchen Anstalten sie kamen, antwortete er: „Da habe ich wirklich keine Erinnerung mehr dran.“ Je mehr ich dazulerne, desto mehr verstehe ich den Zusammenhang zwischen der Aktion T4 und dem, was später mit Juden und anderen als „unerwünscht“ geltenden Menschen geschah. Die Brandenburger „Probetötungen“ zeigten, dass die Vergasung ein „geeignetes“ Mittel zum Massenmord war.
Und wie der Text an der Gedenkstätte betont, „wurden die künftigen ‚Tötungsärzte‘ mit der Handhabung vertraut gemacht.“ Nachdem er Kohlenmonoxid für den Massenmord an behinderten Menschen empfohlen hatte, entwickelte Widmann die Gaswagen, die später für den Massenmord an den Juden an der Ostfront des Krieges eingesetzt wurden. Becker war an der Entwicklung dieser mobilen Tötungseinheiten beteiligt, die auch von den berüchtigten Einsatzgruppen in den von den Nazis besetzten Gebieten der Sowjetunion verwendet wurden. Eberl arbeitete später in den Vernichtungslagern Chelmno und Treblinka während der Operation Reinhard, der „Endlösung“.
Von denjenigen, deren Aussagen in der Brandenburger Gedenkstätte hervorgehoben werden, war Brack der Einzige, der 1948 hingerichtet wurde. Von Hegener wurde 1949 verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt, kam aber vorzeitig frei. Becker erlitt 1959 einen Schlaganfall und wurde als verhandlungsunfähig eingestuft. Heyde wurde 1959 verhaftet und beging vor seinem Prozess Selbstmord. Sowohl 1962 als auch 1967 wurde Widmann zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, kam aber gegen Zahlung einer Geldstrafe frei.
Außerhalb des Gebäudes der Gedenkstätte befindet sich kein Friedhof. Auf der anderen Seite des Parkplatzes liegt eine große graue Kiesfläche, die nur von den rötlich-braunen Ziegelsteinfundamenten der ehemaligen Gefängnisscheune unterbrochen wird, in der die Gaskammer untergebracht war. Auf dem Kies liegen kreisförmig aufgehäufte Blätter – als wären diese zufälligen Formen in einem verborgenen Ritual der Trauer versammelt.
Kenny Fries ist Autor von »In the Province of the Gods« (Creative Capital Literature Award), »The History of My Shoes and the Evolution of Darwin’s Theory« (Outstanding Book Award, Gustavus Meyers Center for the Study of Bigotry and Human Rights) und »Body, Remember: A Memoir«. Er ist Herausgeber von »Staring Back: The Disability Experience from the Inside Out« und seine Gedichtbände umfassen »In the Gardens of Japan«, »Desert Walking« und »Anesthesia«. Er wurde von der Houston Grand Opera beauftragt, das Libretto für »The Memory Stone« zu schreiben. Er war zweimal Fulbright-Stipendiat (Japan und Deutschland), ein Rockefeller Foundation Bellagio Center Arts and Literary Arts Fellow, ein Creative Arts Fellow der Japan/US Friendship Commission and the National Endowment for the Arts, ein CulturalVistas/Heinrich Böll Foundation DAICOR Fellow für transatlantische, vielfältige und integrative öffentliche Erinnerung und er ist ein Ford Foundation/Mellon Foundation/USA Artists Disability Futures Fellow. Er kuratierte »Queering the Crip, Cripping the Queer«, die erste internationale Ausstellung über die Geschichte, den Aktivismus und die Kultur von queeren und behinderten Menschen im Schwulen Museum Berlin. Sein aktuelles Projekt ist »Stumbling over History: Disability and the Holocaust«, von dem Auszüge die Grundlage für seine Videoserie »What Happened Here in the Summer of 1940?» bilden. »The Behavior of the Delinquents«, ursprünglich in der New York Times veröffentlicht, ist ebenfalls ein Auszug aus »Stumbling over History«.