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Jacek Dehnel: »Aber mit unseren Toten«

Jacek Dehnel: »Aber mit unseren Toten«

Übersetzung aus dem Polnischen: Renate Schmidgall

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Kapitel 1

Außerhalb der Stadt war es grau und traurig geworden, wie bei Duda-Gracz oder Edvard Munch. Man sah nur kahle, gegabelte Bäume mit schwarzen Mistelbällen zwischen den Zweigen, lange Furchen in der Erde und Häuser: ein paar alte, aber hauptsächlich neue, ausladend, mit Schutzzäunen aus Strukturbeton, mit Anbauten, die noch unverputzt waren, jedoch schon von der Vergrößerung der Familie oder zumindest von der Vergrößerung ihrer Ansprüche zeugten. Und Schilder, die nicht enden wollenden Schilder der polnischen Provinz: „Reifen“, „Bochnia, Kasimir-der-Große-Straße 8“, „Verkaufe“, „Kaufe“, „MÄHDRESCHER“, „Baugrundstück“, „VERKAUFE ACKERLAND 3200 m², „einziger Firmensalon in Kleinpolen“, „LOCHZIEGEL JOLA“, „zum Sanktuarium“, „Kiosk Pomona“ – und all das in dem feinen Nieselregen, der die Tafeln und die Grundfarben der Beschriftung ergrauen ließ.
„Über Kłaj?“, unterbrach der Tontechniker die finstere Stille mit finsterer Stimme.
„Genau“, erwiderte der Fahrer ebenso finster.
Schweigend erreichten sie Cikowice.
Denn Gundula Janowitz war nicht; bevor Kuba das Gebäude betreten konnte, hatte er eine SMS erhalten, er solle unten warten, weil er mit einem Filmteam fahren werde, das die Verwüstung irgendeines Friedhofs in der Gegend drehen sollte. Er wählte die Nummer der Redakteurin, ein zweites, ein drittes Mal. Sie nahm nicht ab, sondern schickte eine weitere SMS mit dem Inhalt: „Kein Aber.“
Sie passierten eine von einem schmiedeeisernen Zaun mit großem, verziertem Tor umgebene Kirche (hinter den Staketen schien eine Reihe kurzer Stümpfe hervor, die von den gefällten Bäumen übriggeblieben waren) und einen breiten betonierten Parkplatz vor dem imposanten Pfarrhaus, dann bogen sie links ab, in einen halb asphaltierten, halb mit Schotter bedeckten Weg; nach gut zwanzig Metern weitete er sich zu einem kleinen Platz, der in dieser Jahreszeit einfach ein zerfahrener, schlammiger Tümpel war, eine trübe Pfütze, umgeben von Reifenspuren.
„Das muss mal eine hübsche Allee gewesen sein“, sagte Kuba und zeigte Richtung Kirche, die Handschuhe haltend. Niemand griff die Bemerkung auf. Der Rest des Teams holte schweigend die Ausrüstung aus dem Kofferraum.
[…]
*

Das Fernsehen, sagte Kuba öfter, sollte wie früher senden, ab Mittag, und den ganzen Schwachsinn weglassen, und der Informationsservice rund um die Uhr sollte ein für allemal verboten werden, denn die Medien seien wie Leukozyten: Wenn sie nichts Ernsthaftes zu tun haben, fangen sie an, sich mit allem zu beschäftigen, was ihnen vor die Füße fällt, und die Gesellschaft wird von einer Autoimmunkrankheit zerfressen, von der Konzentration auf belanglose Dinge. Er konnte all die Geschichten nicht ausstehen: von Rohrbrüchen, von Unfällen, in denen vier Personen leicht verletzt wurden, vom Geburtstag der ältesten Bewohnerin Kleinpolens – er hielt sie für austauschbar, überflüssig, uninteressant. Vor allem aber hasste er die Sprache, die mit diesen Geschichten einherging. Es war ein fürchterlicher Journalistenjargon mit festen rhetorischen Figuren, abgegriffenen Wendungen, sogar die Intonation war immer die gleiche. Er spürte, dass vor der Kamera aus seinem Mund eine Sprachattrappe kam, mit der er eine Weltattrappe beschrieb. Statt sich mit Gundula Janowitz von Angesicht zu Angesicht deutsche Wörter in Erinnerung zu rufen (darunter das Wort für den Singvogel, dass ihm wie zum Trotz immer noch nicht einfiel), sprach er jetzt mit dem Steinmetz. Und er konnte nicht einfach „Herr Soundso“ zu ihm sagen – nein, nach den Regeln des Genres musste er ihn vertraulich „Herr Andrzej“ nennen.
„Herr Andrzej“, eröffnete er das Gespräch, „sagen Sie bitte unseren Zuschauern… hier… bitte nicht in die Kamera schauen, ja? Danke. Noch mal. Herr Andrzej… sagen Sie bitte unseren Zuschauern, was auf diesem Friedhof hier… in… in Ciko…“ – er warf einen Blick auf den Handrücken, wo er einen Spickzettel hatte – „in Cikowice bei Bochnia passiert ist?“
„Alles zerdeppert, zertrümmert. Wir haben um… wie viel Uhr war das?“ Herr Andrzej schaute vom Mikrofon auf, in das er – ganz dicht dran – freundlich wie zu einem Kind gesprochen hatte, und brüllte jetzt zu einem Burschen im Blaumann hinüber, der hinter einem Mäuerchen stand. „Sechs Uhr dreißig?“ Kuba las von den Lippen des Tontechnikers ab: „Schneiden wir weg“ und zwinkerte zustimmend. „Sieben vielleicht. Um sieben. Wir haben eine Platte gebracht, mit einem Loch in der Mitte für Blumen, das heißt, die muss man zu dritt legen, damit nix kaputtgeht, und wir gucken hier zu den Nachbarn rüber… das heißt, zu den Nachbargräbern, nicht wahr… und da sehen wir´s. Hier, wie dieses Kreuz daliegt, ich hab´s zuerst gesehen, genau, dass es so daliegt. In dieser Position. Dass das beschädigt wurde…“
„Herzlichen Dank.“
„…dass da Randalierer waren. Irgendwelche Typen. Die fahren in die Disko bei Bochnia, dann kommen sie zurück, langweilen sich, da zerdeppern die halt manchmal was. Aber schauen Sie, Herr Redakteur… hier, und mit der Kamera, oder…?“
„Vielen Dank. Aus Cikowice, Kreis Bochnia, berichtete…“
„…das ist von innen aufgebrochen“, sagte der Steinmetz nun lebhafter, als sei er erst jetzt beim wesentlichen Teil seines Berichts angekommen. „Normalerweise schlagen sie mit dem Hammer zu, manchmal ziehen sie ein Kreuz raus, wenn es schlecht befestigt ist, und das mit dem Kreuz, das kann man sehen, dann sind Splitter auf der polierten Fläche. Es sei denn, es ist ein altes Grab, vernachlässigt. Aber wenn es gepflegt ist, dann sieht man, wenn es von was Hartem zerschlagen ist. Wir haben genau geguckt, und es ist bei allen von unten, von der rauen Seite. Und wo Terrazzo ist, bei dem alten, da ist es auch von unten…“
In diesem Augenblick hörte nicht nur Kuba aufmerksam zu, es lauschten auch der Kameramann, der Tontechniker und der Fahrer (ein seltenes Relikt alter Zeiten, als die Fernsehwagen noch von dafür vorgesehenem Personal und nicht von den Technikern gefahren wurden, die keine andere Wahl hatten), ganz zu schweigen von dem Häufchen der Dorfbewohner, die in einer langen Reihe hinter der neu errichteten Mauer standen, grimmig zu den Gräbern hinüber schauten und im Takt nickten. („Dreh das, dreh das“, zischte Kuba Rysiek zu, und Rysiek drehte.)
„Denken Sie also, dass jemand in diese Gräber eingedrungen ist, sie von innen aufgebrochen und dann die Leichen abtransportiert hat?“
„Ja, wie denn sonst? Es fehlen vier. Der Pfarrer guckt noch, ob bei den Dworzaczeks noch mehr Tote drin waren, das ist das älteste Grab, es könnte sein, dass da jemand nicht in die Platte eingraviert war. Aber mindestens vier fehlen. Erstens die alte Frau Dworzaczek, zweitens Dworzaczek junior, dann Kulasz und Herr Spojło. Dieser Spojło ist zu seiner Schwiegertochter in die Gegend von Włocławek gezogen, aber er wollte in Cikowice…“
Rysiek jedoch, der Kubas Zeichen sah, drehte jetzt verschiedene Bilder: einen einsamen kahlen Baum am Horizont, die zertrümmerten Teile der Grabplatten, Plastikblumen in Vasen aus Terrazzo, kleine Kruzifixe aus Zinn auf den älteren Gräbern.
„Also jetzt“, sagte Kuba leise, ohne auf den Steinmetz zu achten, der seine Erzählung leidenschaftlich fortführte, „kommt noch der Polizeisprecher von Bochnia, um fünfzehn Uhr, fünfzehn Uhr dreißig… Vielleicht essen wir was dazwischen? Nein, das reicht nicht. Um fünfzehn Uhr dreißig der Gemeindevorsteher. Dann drehen wir jetzt den Schluss.“
Er stellte sich vor die Kamera, zog ein paarmal die Augenbrauen hoch, bewegte die Ohren und dehnte die Lippen.
„Okay. Los geht’s. Die Bewohner von Cikowice sind empört, und das ist kein Wunder. Sollten in Polen etwa räuberische Praktiken ihr Unwesen treiben, die für geheime… Sorry, noch mal. Die Bewohner von Cikowice sind empört, und das ist kein Wunder. Sollten in Cikowice… Sollten in Polen, sollten in Polen, verdammt. Noch mal. Idiotisch, dieser Text. Die Bewohner von Cikowice sind empört, und das ist kein Wunder. Sollten in Polen etwa Grabräuber ihr Unwesen treiben, die für geheime Praktiken Leichen stehlen? Antworten auf diese Fragen, so hoffen wir, werden die Ermittlungen der örtlichen Polizei geben können.“
„… das war übrigens unpolierter Terrazzo, so ein rauer, auf dem sieht man das nicht. Man sieht´s nur auf dem glatten“, sagte der Steinmetz, nicht aus der Ruhe zu bringen, inzwischen mehr zu sich selbst. „Wie bei den beiden, bei Kulasz und Spojło, und nicht dass da jemand danach draufgehauen hat, sondern der Riss kommt von der anderen Seite. Da müsste man schon mit einer Spitzhacke reindonnern, um eine solche Platte zu zerstören, aber wie sollen sie mit einer Spitzhacke da reingekommen sein? Und wozu, Schei…benkleister, wenn sie sowieso Spuren hinterlassen würden? Schließlich ist es leichter, von oben draufzuhauen…“
Weitere Bewohner von Cikowice kamen, angelockt von dem weißen Van mit der Aufschrift TVP Kraków, von der Kamera und dem Mikrofon, immer näher heran und redeten alle durcheinander – nichts jedoch, was man für die Sendung hätte verwenden können. Es waren hauptsächlich Klagen: Alles wird immer schlimmer, früher war alles anders, die Jugend von heute – alles Randalierer, in diesem Land muss man in Angst leben und in Angst sterben, weil man nicht einmal weiß, was nach dem Tod mit der Leiche passiert.
Kuba nickte, tat so, als hörte er zu, hob aber den Kopf, musste wieder an Gundula Janowitz denken und starrte geradeaus in die Landschaft. In den tiefhängenden, rattengrauen Märzhimmel, auf die rattenbraunen Furchen darunter, hier und da von schmutzigen Streifen schmelzenden Schnees durchzogen, und auf den großen, ausladenden Baum in der Ferne. Unter dem Baum stand eine graubraune Gestalt: rattenhaft-schattenhaft, gebeugt, mit am Körper herabhängenden Armen, in abgerissener Kleidung, soweit man das aus der Entfernung sehen konnte. Die Gestalt schwankte leicht hin und her.
„…wenn der TVN gekommen wäre, das sag ich Ihnen, da hätten sie mich auf Knien anflehen können, und ich hätte nichts gesagt, kein Sterbenswörtchen“, sagte eine brünette Frau in einer roten Daunenjacke, zerrte ihn am Ärmel und klimperte mit den großen Reifen ihrer Ohrringe, „aber Sie sind vom TVP 1, das sind nicht die Schlimmsten. Also ich sag´s Ihnen. Das wird so weitergehen, solange sie ungeborene Kinder töten. Sie können mich zitieren. Sie können mich zitieren: Das wird so weitergehen, solange sie ungeborene Kinder töten. Das wollte ich nur sagen.“
„Hast du gesehen?“, sprach Kuba den Kameramann an und fuchtelte mit der Hand in Richtung des Baums, „hast du das gedreht?“
„Den Baum? Ja, den hab ich.“
„Nein, den Typen.“ Kuba hob wieder den Kopf. „Da stand so ein seltsamer Typ. Oder eine Frau.“
„Ich hab nur den Baum. Willst du noch den Glockenturm?“
„Das ist ein Dachreiter, kein Glockenturm.“

 


 

Jacek Dehnel (born 1980 in Gdańsk, Poland) is a Polish poet, writer, translator and painter. He graduated from the Polish Language and Literature faculty at the Warsaw University’s MISH College. Dehnel has translated works of (among others) Philip Larkin, Henry James, Edmund White, Francis Scott Fitzgerald, J.M. Coetzee. His own works were translated into over a dozen of languages – in German are available his two novels: »Lala« (Rowohlt, 2009) and »Saturn« (Hanser, 2013) translated by Renate Schmidgall and third will follow this Autumn »Aber mit unseren Toten« (Edition.fotoTAPETA, 2022). Together with his husband, Piotr Tarczynski, he wrote four volumes of a vintage crime series, published under a pen name Maryla Szymiczkowa. Dehnel has been awarded literary prizes that include the Kościelski Award and the Paszport »Polityki«. He is a president of a Polish writers‘ association Literary Union. Since 2020 he and his husband live in Berlin.

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