Burçin Tetik: »Die Rippe meiner Mutter«
Die Rippe meiner Mutter
Aus dem Türkischen von Monika Demirel
Meine Mutter spricht im Schlaf. Seit der Operation sagt sie im Traum immer wieder dieselben Worte: „Ist hier niemand?“ Hunderte Male in einer Stunde murmelt sie diesen Satz zwischen ihren aufgeplatzten Lippen hervor. Als sie früh aus der Narkose erwacht war und sich auf dem metallenen OP-Tisch wiederfand, hörten wir sogar durch die festverschlossenen Türen des Operationssaals hindurch ihre schrillen Schreie. Mit dem frischen Bauchschnitt, den metallenen Klammern, die ihre Wundränder zusammenhielten, und ihren inneren Organen, die ihre Plätze noch nicht einmal wieder eingenommen hatten, war sie in dem leeren OP- Saal vorzeitig einfach so aufgewacht. „Ist hier niemand?“, wimmerte sie, als man sie in ihr Zimmer brachte, selbst als ich neben ihrer Krankenbahre „Ich bin hier“ sagte, wiederholte sie, meine Antwort überhörend, ihre Frage. Dass ich und die Krankenschwestern dort waren, hatte für meine Mutter keine Bedeutung, sie war allein. Wenn man einmal wirklich allein gewesen war, lässt einen diese Einsamkeit ein Leben lang nicht los. Solange ich denken kann, war meine Mutter einsam und allein.
In der Zeit, in der ich als Begleitperson im Krankenhaus blieb, rief Sibel mich jeden Tag an. Am vierten Tag ging ich nachts zu Sibel, um zu duschen und ein wenig zu schlafen. Sie hatte das Bett frisch mit herrlich duftenden Laken bezogen und meine Lieblingspasta mit Brokkoli zubereitet. Während vier Tagen, in denen ich die Arbeit der Krankenschwestern erledigt hatte, wie Urinbeutel zu leeren und in weitentfernte Gebäude zu hetzen, um Blutproben abzugeben, oder ich, obwohl mein Schädel vor Nikotinmangel zu platzen drohte, stundenlang im Zimmer ausharrte, aus Angst, ich könnte die einminütige Arztvisite verpassen, wurde meine stählerne Willenskraft nicht für eine Sekunde erschüttert. Doch sie schmolz dahin, sobald Sibel mich in die Arme nahm. Während Sibel mir im nach Lavendel duftenden Bett den Kopf streichelte, schlief ich weinend ein.
Manchmal überlege ich mir, warum ich mich von Sibel angezogen fühlte. Wer behauptet, dass Frauen sich Männer suchen, die ihren Vätern ähneln, meint also gleichzeitig, dass dieselben Frauen mit Frauen zusammen sind, die ihren Müttern ähneln? Nach Murat bei Sibel zu leben war wie ein Kind zu sein, das nach der Trennung der Eltern die Wochenenden beim Vater verbringt und eine tiefe Entspannung verspürt, wenn es zur Mutter zurückkehrt. Mit dem Vater kann man sich amüsieren, Regeln brechen, schallend lachen.
Aber nach einer Weile genügt das nicht mehr. Man möchte in Sicherheit sein, sich beachtet fühlen. Ich weiß nicht, ob das für jeden gilt, aber ich ging zu Sibel, als kehrte ich zurück zu meiner Mutter. Als ich zum ersten Mal mit meinen Fingern in Sibel eindrang, fühlte ich wieder die feuchte und dunkle Sicherheit der Gebärmutter. Mit vierzig Jahren kehrte ich nach vielen Männern zurück an den Ort, aus dem ich gekommen war. Murat wäre niemals auf die Idee gekommen, das Bettzeug zu waschen. Er hätte niemals verstanden, was ich brauchte, und niemals an Pasta mit Brokkoli oder an Schlaf bringenden Lavendelduft gedacht.
Am fünften Tag nach der Operation kehrte ich morgens ausgeruht in die Klinik zurück. Meine Mutter lag noch immer im Bett. Das Sauerstoffgerät war inzwischen aus dem Zimmer entfernt worden, allerhand Schläuche für Infusionen und austretende Körperflüssigkeiten befanden sich noch an ihrem Platz. Ich betrachtete die von Einstichen blau angelaufene Hand meiner Mutter und den langen Schnitt, der dreimal täglich neu verbunden werden musste. Wie konnte jemand noch derselbe Mensch sein, wenn man ihm den Leib der Länge nach aufgeschnitten, einiges daraus entfernt und die Wunde wieder zusammengenäht hatte? Etwas von ihr war nicht mehr da, manche Organe hatten sie entfernt, manche herausgenommen und wieder eingesetzt. War es so leicht, eine Maschine zu sein? Schließlich wurden wir geöffnet, geschlossen, und nach dem Austausch einiger Teile ging unser Leben weiter. „Ist da niemand?“, murmelte sie wieder ein wenig im Schlaf. Ich strich über ihr vom Schweiß feucht gewordenes Haar. Mit einem feuchten Tuch reinigte ich ihr das Gesicht, den Hals, die Schultern. Es war nicht niemand da, ich war da. Ich war derart immer da, dass ich mittlerweile unsichtbar geworden war. Ich war doch hergekommen, hatte die sauberen Laken, einen Topf Pasta mit Brokkoli und Sibel verlassen, die meine Mutter für meine Mitbewohnerin hielt. Doch wieder war ich nicht genug. Ich konnte meiner Mutter niemals genügen.
Am zehnten Tag verließen wir das Krankenhaus. Bevor wir gingen, erklärte mir die Oberschwester ausführlich, wie ich meiner Mutter die Spritze zu geben hätte und dass ich die Wunde täglich neu verbinden müsse. Ich fragte mich, ob sie mir das alles auch genau so erklärt hätte, wenn ich Mutters Sohn gewesen wäre und nicht ihre Tochter. Oder hätte sie mit ihren Augen nach einer Frau gesucht, meiner Frau erzählt, sie möge zuerst ordentlich Jod auftragen, dann mit Druck von oben nach unten die Wunde reinigen, darauf bedacht, nicht an den Metallklammern hängenzubleiben? Und hätte ich keine Frau, hätte sie mir wahrscheinlich vorgeschlagen, eine Pflegerin anzuheuern oder eine Krankenschwester zu engagieren. Doch meine vorrangige Aufgabe bestand darin, die Tochter meiner Mutter zu sein. Wenn nötig, wäre ich ihre Krankenschwester, Ärztin, Köchin, Putzfrau, die Person, die ihr die Spritzen verabreichte, ihre Pflegerin. Das gebot sich den Töchtern von Müttern.
Diese Geschichte wurde vom İletişim Verlag veröffentlicht und von Monika Demirel mit Unterstützung des Deutsch-Türkischen Forums Stuttgart ins Deutsche übersetzt.
Burçin Tetik ist eine türkische Schriftstellerin und Journalistin. Sie schreibt hauptsächlich über Frauenrechte, LGBTQ, Sexismus und die Kultur der Unterdrückung. Ihre Geschichte »Eşçip«, die sich mit der von Männern dominierten Familienstruktur in einem Science-Fiction-Rahmen befasst, wurde 2015 mit dem ersten Preis im Science-Fiction-Story-Wettbewerb des türkischen Informatikmagazins ausgezeichnet. Sie ist die erste Frau, die diesen Preis gewonnen hat. Mit ihrer Geschichte »Eine halbe Stunde« gewann sie einen Sonderpreis im Story-Wettbewerb von Kaos GL (2018). Ihr Erzählband »Die Rippe meiner Mutter«, der sich mit den Themen Frau-Sein, LGBTQ+ und Einwanderung beschäftigt, wurde 2020 veröffentlicht. Sie arbeitet als Redakteurin für den YouTube-Kanal +90 der Deutschen Welle.