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Arna Aley: »ISTERIJA«
Arna Aley

Arna Aley: »ISTERIJA«

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ISTERIJA

Aus dem Litauischen von Arna Aley

Die Glastüren des Hauses der Verbände öffnen sich fünfmal wöchentlich automatisch, um mir den Zutritt zur Bürohölle zu gewähren. „Kurva korona!“, würde meine Mutter sagen, die für mich eigentlich ein Vorbild innerer Kultur ist, aber bei Bedarf auch ziemlich derb sein kann. (Erinnert mich bitte später daran, dass ich euch „Das Märchen vom goldenen Penis“ erzähle –ihr werdet es nicht bereuen.) Mein Hass auf meine Rolle als Büroangestellte hat sich sowohl qualitativ als auch quantitativ gesteigert, im kabbalistischen Sinne ein eindeutiges Zeichen des Fortschritts. So widersprüchlich es auch erscheinen mag, der Indikator für geistiges Wachstum ist eine Steigerung des Egos. Ich spüre, allein die schnaufende Orla zu hassen, reicht mir nicht mehr aus.

Aus dem Inneren meines Brustkorbs bricht eine Kalaschnikow-Titte hervor, auf der Suche nach einer Zielscheibe. Besmakris.

Besmakris, der Kinnlose, wurde aufgrund eines Kuratoriumsbeschlusses einer im Bereich „Hochkultur“ tätigen Organisation aus der siebten Etage des Hauses der Verbände in die dritte Etage heruntergespült, bekam ein Büro am hinteren Ende des Flurs zugewiesen, direkt gegenüber der Damen- und der Herrentoilette, Garant für den persönlichen Misserfolg (laut Feng-Shui), und durfte die restlichen Jahre bis zur Pensionierung als „Heruntergespülter“ vor sich hin vegetieren, eine Rolle, die Besmakris seit über acht Jahren mit einer gewissen Perfektion, um nicht zu sagen Bravour meistert, sowohl was sein Äußeres betrifft als auch seine innere Haltung. Kurz: Er sieht aus, als wäre er gerade erst aus einem Abflussrohr gekrochen, und sobald er seinen Mund aufmacht, kommt nur Gülle heraus, die er mit einer Genugtuung, die nicht eines perversen Beigeschmacks entbehrt, über seine Mitmenschen ausschüttet in der Hoffnung auf deren Anerkennung, weshalb er Mitarbeiter bevorzugt, die ihre Meinung konsequent für sich behalten. Wenn er die Frechheit besäße oder vielmehr den Mut zu einer uneingeschränkten Frechheit, würde er seine jeder Logik trotzende Einstellungsstrategie mit „Ich lebe die Vielfalt“ zusammenfassen, in Klammern: privat wie beruflich, das Kleingedruckte: Vorausgesetzt mein Status quo als glatzköpfig, bepimmelt, langweilig (sprich: überlegen) bleibt unangetastet und die „Vielfalt“ benimmt sich: Lässt also meinen Schweißgestank über sich ergehen, toleriert mein allmorgendliches Erscheinen im Büro in enganliegender Radlerkleidung mit ausgestellten Genitalien, erträgt es stoisch, von mir beim Reden angespuckt oder angerülpst zu werden, wartet geduldig ab, bis ich mich ausgehustet oder gar ausgekotzt habe, nachdem ich mich an den von meiner Frau geschmierten Broten verschluckt habe. Ich breite mein ganzes widerliches Wesen vor der „Vielfalt“ aus (du Schlampe, du Nutte, du Hure) und erzähle von den Titten meiner jüdischen Frau, mit denen sie imstande war, unsere beiden Zwillinge gleichzeitig zu stillen. Während einer der Zwillinge gierig an der einen Brustwarze saugte, brauchte der andere bloß schläfrig seinen Mund zu öffnen, um den Milchfluss der anderen Brustwarze aufzufangen. Schlaraffenland? Effizienz? Welche Lehre soll die „Vielfalt“ daraus ziehen? Die Zwillinge gehen inzwischen regelmäßig in die Synagoge, da der jüdische Glaube bekanntlich mit der Muttermilch eingesogen wird. Bist du immer noch nicht davon überzeugt, eine wertlose, zweitklassige Kreatur zu sein? Ja, du.

Wir leben die Vielfalt.

Der letzte Dibbuk war ein Deutscher. Das war ein verdammt schlauer Schachzug desjenigen, der alles kontrolliert: mir den lausigen Kinnlosen auf den Hals zu hetzen. Prompt habe ich den größten Fehler begangen: den Gegner zu unterschätzen. Ein ukrainisches Sprichwort besagt: Один гусак поля не витопче. – Ein einziger Gänserich wird schon nicht das ganze Feld zertrampeln.

– Schnauze voll von den Ukrainern?
– Was hat das mit den Ukrainern zu tun?

Ich drehe mich zu Orla um. Ihre zwei Scroll-Finger halten kurz inne, um nach ihrem tiefen Seufzer weiter über den Bildschirm des Smartphones zu wischen, ohne meine Anwesenheit zu beachten.

– Voll unter Strom?
– Gar nicht. (antworte ich)
– Das seh ich doch.
– Du kannst mich mal.

Eine Grimasse auf Orlas Gesicht, offenbar gezielt gegen mich eingesetzt, triggert mich und aktiviert meine Kalaschnikow-Titte, die à la Terminator-Arm aus meinem Brustkorb fährt und aus einem für sie etwas umständlichen Winkel meine Fossa jugularis anvisiert. Ich verwende absichtlich den lateinischen Terminus. Die litauische Bezeichnung kaklo duobė – die Halsgrube – spiegelt mein Kindheitstrauma keinesfalls wider. Der deutsche Begriff „Drosselgrube“ bringt es schon eher auf den Punkt. Ich habe dieses Kindheitserlebnis in einem meiner Theaterstücke beschrieben, in dem ein Neugeborenes von seiner Mutter regelmäßig unter Wasser gewürgt wird, wobei die Mutter, jedes Mal von einer Art Orgasmus überwältigt, immer abhängiger wird von dem Moment, in dem eine Millisekunde über Leben oder Tod entscheidet. Überleben.

Bis heute weiß ich nicht, ob diese Erfahrung eher dem Bereich Dichtung oder Wahrheit zuzuordnen ist, genauso wenig wie die in meinem Kopf zu einem Stuckschen Gemälde erstarrte, rasende Gestalt meines Vaters, der mich um den Esstisch jagt, um mir seine Potenz zu beweisen, die ich aufgrund seiner krankhaften Eifersucht auf meine Mutter angezweifelt hatte. Damals ging ich noch nicht mal zur Schule, später dann entwickelte ich tatsächlich die besondere Fähigkeit, alle Männer, die sich in meiner Nähe befanden, in impotente Wesen zu verwandeln.

In der rechten Ecke meines Computers blinkt eine Nachricht auf – Push News – der „U2“-Frontmann Bono soll in einer Metrostation in Kiew singen. Gestern, kurz vor dem Einschlafen, stellte ich mir vor, alle Prominenten der Welt würden sich am 9. Mai in Kiew versammeln. Würde der Psycho seine Raketen auch auf sie abfeuern, wie auf António Guterres, bevor er dann auf dem Mausoleumsplatz seiner Zombie-Parade zuwinkt? Ja, das würde er, dachte ich und schlief ein.

Wenn ich sterbe, soll die ganze Welt mit untergehen, das war mein Kindheitswunsch, den ich zwischendurch vergessen hatte und der mir wieder einfiel, als die Pandemie losging.
Danach kam der Krieg und nach dem Krieg wird wieder etwas anderes kommen. Lieber nicht daran denken, lieber die große Liebesgeschichte schreiben, die in der Mommsenstraße in Berlin begann, in den Räumlichkeiten einer angesagten Filmproduktionsfirma. Niemand außer mir kann diese Geschichte erzählen. Um sie zu erzählen, habe ich mein ganzes Leben gelebt. Und solange ich sie erzähle, könnt ihr ruhig schlafen, denn die vereinten Kräfte aller Zombies, Dämonen und Dibbuks in Gestalt von Orlas, Kinnlosen und Psychos werden sich um mich scharen, um mich dabei zu stören.

Etwa fünfzig Filminteressierte fieberten dem Kommen des Regisseurs entgegen. Als er nach deren stundenlangem Ausharren in den ungelüfteten Fluren der Produktionsfirma plötzlich völlig unerwartet erschien, war keiner mehr imstande, einen König in ihm zu erkennen.

Aš pažinau karalių tavyje iš žingsnių aido
Ir iš akių blizgėjimo aštraus

„Einen König habe ich in dir erkannt am Hall deiner Schritte
Und an deinen scharf leuchtenden Augen“

Am Duftschleier eines unverschämt teuren Parfüms, der sich wie ein leichter Nebel über den langen, plötzlich verstummten Flur erstreckte.

– Das ist ER. (flüsterte jemand)

Ein stilisierter Militärmantel mit Stehkragen, umhüllt von einer für Normalsterbliche unbezahlbaren Duftwolke, huschte den von Hoffnungen erfüllten Flur entlang und verschwand am Ende des Ganges hinter einer stinknormalen Bürotür. (Jetzt ist es mir mehr oder weniger gelungen, den ersten Eindruck, den ER hinterließ, in Worte zu fassen.)

– Was für eine Energie! (sagte er, als ich die Bürotür hinter mir zufallen ließ)

Meine angestrengten Versuche, seinem auf Russisch gehaltenen und eine gefühlte Ewigkeit dauernden Monolog über ich weiß nicht was zu folgen, wurden mit dem krönenden Schlusssatz belohnt:

– Ich will Sie. Aber Sie sind ein Engel.

Ich nickte neutral, da mir der Kontext für diese Aussage fehlte. Ich hatte nur Bruchstücke seines Monologes verstanden. Es ging um ein russisch-jüdisches Genie, einen Physiker, von dem ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Landau hieß er, glaube ich.

– Ich erwarte Sie in Charkow. (fügte ER hinzu)

 


 

Arna Aley, geboren in Panevėžys, Litauen, studierte Violoncello an der Akademie für Musik und Theater in Vilnius und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Regieassistentin, Abendspielleitung und Bühnenmusikerin am Berliner Ensemble, u. a. mit George Tabori und Claus Peymann. 2009 wechselte sie zum Film und leitete die Regieabteilung beim internationalen Multimediaprojekt ›DAU‹ (Regie: Ilya Khrzhanovsky). Ihre Theaterstücke (vertreten durch Felix Bloch Erben) wurden mit zahlreichen Preisen und  Stipendien ausgezeichnet und u. a. am Berliner Ensemble uraufgeführt. 2022 war sie die erste Literaturstipendiatin der Stadt Chemnitz. Sie übersetzt Theaterstücke aus dem Litauischen ins Deutsche und aus dem Deutschen ins Litauische, u. a. von Sibylle Berg. Arna Aley lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin.

 

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