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Nikolay Kononov: »The Night We Disappear«

Nikolay Kononov: »The Night We Disappear«

Übersetzung aus dem Russischen: Maria Rajer

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Alexandra, 27, London, geht auf Twitter, schreibt: ich will krepieren. Schließt es und wendet sich der Phänomenologie des Geistes zu. Eine Minute später macht sie Twitter wieder auf und schaut, wie viele Likes sie hat. Vier.
Alexandra ergänzt: stattdessen lieg ich hier. Ich auch, ich auch, ebenso, ich auch, hallt es von den Friends zurück, gute Entscheidung.
Der Kapitalismus wütet.
Ich liege da.
(Womöglich der härteste Tweet in der Geschichte, kommentiert Alexandra.)
Vor drei Jahren hielt sie es nicht mehr aus. Eine unsichtbare Hand drückte ihr in der gottgefälligen Stadt Moskau, in die ihre Eltern aus dem ölreichen Labytnangi unbedingt ziehen mussten, Tag und Nacht die Luft weg. Es halfen weder Yoga noch MDMA.

Alexandra war bei einer Demo für das Wohlergehen eines Politikers, den man kurz darauf vergiftet hat, dort wurde sie verhaftet und lange im Polizeibus herumkutschiert. Das Ergebnis waren Herumgekotze in dem Polizeibus, Klaustrophobie und Panikattacken mit Luftnot. Auf dem Revier vertrieb sie sich die Zeit mit einer Predigt: Die Anarchie ist die höchste Form der bürgerlichen Ordnung, und kein Chaos, wir müssen aufhören, den Staat als eine Notwendigkeit zu betrachten. Ein Polizeibeamter, der schwer unter einer Verstimmung des Magendarmtraktes litt, beugte sich zu ihr und flüsterte: „Sei froh, dass nur ich das höre, und nicht der da.“ Er nickte in Richtung eines Mannes in Kaschmirsakko. Der sah sich die Aufnahmen von der Demo an und kritzelte etwas in einen Notizblock.

Alexandras Eltern tobten und weigerten sich, ihr einen Master zu bezahlen, in dem man sich mit Anarchismustheorie befasst, obwohl es an Geld nicht mangelte. Aber sie steckten mitten in der Scheidung und wollten sich mit so etwas nicht herumplagen. Während Alexandra davon träumte, irgendwohin abzuhauen, wo es sich leichter atmet als in einem Polizeibus, wo Menschen nicht für vermeintlichen Extremismus weggesperrt oder mit in den Arsch geschobenen Flaschen gefoltert werden, und wo sie keine neue Sprache lernen muss, zusätzlich zu dem von klein auf gepaukten Englisch.
Es musste was zur Tarnung her: Sie könnte ja so tun, als wollte sie Juristin werden, sich an der Rechtswissenschaft einschreiben und statt des Paragrafendschungels die anarchistische Republik Rojava oder Katalonien während des spanischen Bürgerkriegs erforschen. Mutter war besessen von der Vorstellung, wie sie geschminkt, High Heels tragend, in einem Londoner Restaurant sitzt. Der juristische Traum ließ sich also gut vermitteln.

Aber je näher die Masterarbeit rückte, desto klarer wurde Alexandra, dass sich die ersehnte finanzielle Freiheit nur durch Wirtschafts-, Seerecht oder ähnliches erlangen lässt. Denn sich in einer teuren Stadt als Philosophin (das Femininum hatte sie sich bei Turgenjew abgeschaut) mit Nebenjobs über Wasser zu halten und in einem WG-Zimmer zu darben, war unter ihrer Würde. Unterdessen entwickelten sich die Ereignisse in der Heimat immer schlimmer: mundtot gemachte Journalisten, Verhaftungen für Plakate selbst mit betont absurden Statements, und Kriegsdrohungen an einen Nachbarn, von dem man klammheimlich schon eine ganze Halbinsel ergaunert hat.
Frustriert und voller Hass auf vieles, einschließlich sich selbst, gießt Alexandra Fertignudeln auf und geht wieder auf Twitter.

… Also, jetzt kommt der Thread „Ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll“. Denen, die real sind, gestehe ich aus freien Stücken und in einem durch Antidepressiva normierten Geisteszustand, dass ich seit über einem Jahr im tiefsten Loch bin …

… beispielsweise hatte ich die ganze Zeit keinen Sex, brauch ich auch nicht, obwohl es den lesbischen Separatismus noch auszuprobieren gilt, und das hat nicht mal was mit Covid zu tun, oder mit der Angst, dass es wirklich noch zum Krieg kommt …

… nichts gegen Tinder, aber bevor ich mich ausziehe, würde ich gern ein bisschen reden, aber die Menschen sind so furchtbar abgedreht oder im Gegenteil, so normal – dass mir klar wird, wie verrückt ich bin, mit meinem ewigen Verlangen, dass jeder x-beliebige meine Singularität erkennt …

… und dann die Wut, wenn mir was nicht gelingt, und die mammutgrauen панелки vor den Augen (ja, sie verfolgen mich, die Plattenbauten, verlassen und verfallen wie sie sind). Neulich kam mir sogar der abgefahrene Gedanke, mir hier wirklich eine Therapeutin zu suchen …

… und ich muss zugeben, dass ich es nicht schaffe, mich dem Kapitalismus zu widersetzen, der Druck macht und einen dazu zwingt, ein permanentes Einkommen zu haben, aber schön aufpasst, dass die Ungleichheit nicht zu groß wird und das Prekariat nicht hungert …

… die Wissenschaft schien mir ja wie eine Oase, aber alle unbefristeten Stellen sind vetternwirtschaftlich besetzt und das höchste der Gefühle für einen Menschen jenseits dieser Unihierarchie sind Zeitverträge, und wo die hinführen, wisst ihr ja: mit einem Sack Neurosen in die Klapse …

… ganz fabelhaft fühle ich mich ja, wenn ich mir klarmache, dass meine Perspektive, die einer privilegierten Europäerin ist, und wie es jemandem in den [ehemaligen] Kolonien gehen muss, die von den [ehemaligen] Imperien mit ihrer Entwicklungshilfe verarscht werden, die einen Scheiß bei der Entwicklung hilft …
Alexandra, 27, seufzt und ergänzt: ok, um ganz ehrlich zu sein, ich heule hier nur so rum, weil ich meinem Prof einen Essay über russische Anarchisten in der Emigration versprochen habe, um dann festzustellen, dass man die interessanten unter ihnen an einer Hand abzählen kann, und fünfttausend Wörter über einen langweiligen Autor …
Mein Beileid, ich drück dich, заплакала, tröstet das Twittervolk Alexandra. Jemand fügt hinzu: Der Kapitalismus ist natürlich der letzte Dreck, aber vielleicht lohnt es sich, in spätere Quellen als die der ersten Emigrationswelle zu schauen? Die Konterrevolution hat gerade ihre Archive geöffnet, dort gibt es angeblich ein paar prominente Ausreißer aus Russland, hier. Und schickt ihr einen Link.

Alexandra geht auf die Seite des Archivs MI5, per Stichwortsuche findet sie ein einziges Dokument: „Die Aussage Herr Iras“, darin ist viel von Anarchie die Rede. Mit dem Herrn Ira sind noch ein paar Dokumente verlinkt: seine Verhörprotokolle nach dem Zweiten Weltkrieg und irgendwelche Berichte.
Alexandra schüttet gleich den ganzen Kaffee in das Mokkakännchen, weil die Packung schlampig aufgerissen wurde und das Aroma längst verflogen ist. Sie schaltet den Herd an, die Dokumente laden.
Die Hoffnung ist nicht allzu groß. In der Forschung ist der Zweite Weltkrieg abgegrast und nervt so langsam. Aber wer weiß, vielleicht finden sich ja interessante Seitenstränge. Und Verhörprotokolle sind zumindest eine unterhaltsame Lektüre.

Das Restaurant vor ihrem Fenster klimpert mit Besteck, lärmt, lacht. Auf der Insel ist es noch nicht kalt genug, um die Tische wegzuräumen und die Bottiche mit den Christsternen in den beheizten Saal zu stellen.
Seufzend klickt Alexandra auf das erste Dokument. Abschlussprotokoll der Ermittlungen im Fall des Büros „Klatt“, 31.11.1946, London, MI5 …

 


 

Nikolay V. Kononov wurde 1980 in Moskau geboren. Er studierte Journalismus und Politische Philosophie in der Moskauer Hochschule Schaninka und lebt seit 2019 in Berlin, wo er als Schriftsteller und Chefredakteur der russischsprachigen Online-Plattform »Teplica« über Aktivismus und Antikriegswiderstand arbeitet. Kononov ist Autor von vier Romanen. 2019 stand sein Debut »The Uprising« auf der Shortlist für den wichtigsten russischen Literaturpreis »Nos«. 2022 erscheint Kononovs neuer Roman »The Night We Disappear«, der die Geschichten von Staatenlosen erzählt, die nach der Revolution aus der Sowjetunion geflohen sind, und die ihrer Nachfahren heute.

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