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Meriam Bousselmi: »Das Unüberschreitbare überschreiten«

Meriam Bousselmi: »Das Unüberschreitbare überschreiten«

Übersetzung aus dem Französischen: Corinna Popp

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Künstler in der Auseinandersetzung mit Grenzen

Ich will die Last loswerden, die ich mir selbst bin, und gehen. Durch Straßen gehen, die ich nicht kenne und in denen die Leute von mir sprechen wie von einem Gespenst. Ich glaube, die einzige Möglichkeit, um mich leichter zu fühlen, ist, von Tunis wegzuziehen, weit weg. Weit weg von meinen Wurzeln. Sie ziehen uns immer so nach unten, diese Wurzeln! Ich beneide die Wolken darum, dass sie in der Luft hängen. Ich wäre gerne eine Wolke. Ich habe nie verstanden, wie man einen Satz wie „If you don’t like where you are, then change it. You are not a tree“ in die Praxis umsetzen soll. Ich habe versucht, woanders hinzugehen, bin aber immer gescheitert. Berlin ist die Stadt, in der ich gern wohne. Aber so weit bin ich noch nicht, dass ich den großen Käfig gegen einen kleineren tauschen würde. Ich will alle Käfige kaputtmachen. Um mit dem Ersten anzufangen: dem Leben. Das Theater ist meine Heimat und meine Heimat ist ein Theater. In Zukunft ist mir die Poesie als Heimat lieber. Ich mag es, ein Gedicht zu teilen, so wie man ein Stück Brot teilt, wenn man Hunger hat. In jeder Heimat, in jeder Poesie findet man Solidarität. Ich mag es, zu gehen. Aber ich gehe wenig. Schafe gehen in Herden. Ich bin von Geburt her eine Löwin, ich gehe allein. Im Blick jedes Menschen liegt der Horizont, der dauernd nach ihm ruft. In jedem Land schreibe ich eine Seite. Diese Seite ist meine neue Adresse. Ich bin in keiner Sprache zu Hause. Keine Sprache ist in mir zu Hause. Alle Sprachen können nicht sagen, was ich zu sagen habe. Das Leben ist die Summe der Entscheidungen, die jeder Mensch trifft. Man kann über jede Entscheidung im Leben streiten. Die der Nation wird einem angerechnet! Ein einziges Gedächtnis reicht nicht! Um den Lauf der Geschichte zu ändern, müssen wir neue Gedächtnisse klonen. Damit die Heimat mehr als ein Gedächtnis verdient und nicht auf ein einziges reduziert wird. Die Welt ist ohne Freund. Der Mensch ohne Seinesgleichen. Das Land ohne Herren. Die Kunst ohne Vormund. Die Zeit ohne Ausnahme. Alle Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg führt zur Menschlichkeit! Frage dich lieber, was du tun musst, als was du tun willst! Wie jeden Abend bin ich mit dem Herzen heute im Osten und mit dem Geiste im Westen. Immer in Bewegung rund um die Welt, obwohl ich einfach nur wie ein Baum verwurzelt sein und die Welt spüren will, die um mich herum in Bewegung ist. Es ist mir lieber, umherzuirren, als zu stagnieren. Denn das Umherirren ist der Tanz der Erde. Auf Griechisch heißt Planet „umherirrender Stern“. Ich bin ein Planet, der über Grenzen und räumliche Beschränkungen hinwegtanzt. Ein Visum kann man mir verweigern, aber am Umherirren kann man meine Seele und meinen Geist nicht hindern.

 


 

Meriam Bousselmi wurde 1983 in Tunis geboren. Sie ist eine arabisch- und französischsprachige Autorin, Regisseurin, Rechtsanwältin, Dozentin, Forscherin und Brückenbauerin. Seitdem Meriam Bousselmi im Anschluss an die Schreibresidenz des Artists-in-Berlin-Programms des DAAD 2017 nach Berlin gezogen ist, hat sie einen mehrsprachigen Schreibstil und einen interdisziplinären künstlerischen Ansatz entwickelt. 2021 war Meriam Bousselmi als Stipendiatin zu Gast im Heinrich-Böll-Haus in Kreuzau, wo sie ein neues Stück vorbereitete: »Mutfabrik«.

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