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May-Lan Tan: »Trajektorie«

May-Lan Tan: »Trajektorie«

Übersetzung: Thomas Arlt

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I.
Ich weiß noch nicht, wie ich Dinge im Gedächtnis aufzeichnen soll, deshalb mache ein Punkt-zu-Punkt-Bild aus ihnen, um sie später zusammenzufügen und einzufärben. Später wird dies wiedergegeben, als wäre es der Anfang der Erinnerung, aber wenn man es langsam abspielt, sind es nur Standbilder, bei denen alle Geräusche und Gerüche ausgebleicht sind.

Ich stehe auf einem Felsen mitten in einer heißen Quelle. Meine Eltern kochen mit langen Stäbchen im Wasser Eier, umgeben von Dampfstößen wie Engel im Himmel. Man kann den darunter brennenden Vulkan riechen.

Meine Schwester ist zu Hause in Hongkong und bereitet sich auf ihre Prüfungen vor. Ich trage ein weißes Sommerkleid mit Flügeln, Rüschensocken und Leinenschuhen. Ich verstehe nicht, wie Kleidung funktioniert oder wie man sie kontrolliert – soweit ich weiß, ist sie ein Teil meines Körpers, der sich jeden Tag von selbst ändert, wie Mahlzeiten und Wetter.

Ich weiß nur, was ich in der Erinnerung trage, da mich meine Eltern, wenn wir nächstes Jahr zurückkommen, um das Trauma umzukehren, dazu zwingen werden, dasselbe Outfit zu tragen. Nächstes Jahr werde ich vier. Das Kleid wird immer noch passen, aber sie müssen nach den gleichen Schuhen in einer größeren Größe suchen.

Das erste, was wirklich auf der Kassette ist, ist Schmerz. Meine Schreie machen die Welt rot. Ich bin im Wasser und dann in der Luft. Mein Vater hält mich fest, während meine Mutter meine Schuhe auszieht. Als sie meine Socken auszieht, schält sich meine Haut mit ihnen in Streifen ab.

Ich weiß, dass ich eine Grenze überschritten habe und jetzt muss ich sterben. Ich bin super-religiös und bereit zu sterben. Ich komme in den Himmel, schreie ich. Ich werde Jesus sehen.

Alles wird weiß. Die Sirene des Krankenwagens sagt mir, dass ich ich bin, dieser Schmerz gehört nur mir.

II.
Mein Schlafzimmerfenster blickt auf ein Fenster mit einem Gesicht darin. Es ist dort genau wie der Mond, seit meine Schwester aufs College gegangen ist und ich in ihr Zimmer gezogen bin. Das Gesicht steht mir immer gegenüber, aber ich kann nicht sagen, wohin die Augen schauen. Das Fenster ist ein Badezimmerfenster mit gewelltem Glas. Alles, was man sehen kann, ist ein Schokochipkeks, ein Lego-Haarschnitt.

Ich habe keine Angst vor dem Gesicht, weil ich es mir vielleicht nur einbilde, so wie in meinem Gebäude eine Katze im Treppenhaus lebt, die außer mir niemand sehen kann. Ich zeichne Bilder und klebe sie mit dem Gesicht nach außen an mein Fenster.

Man kann sich das Gesicht als einen ganzen Kopf vorstellen, der mit einem Hals an einem Körper befestigt ist, aber nach einigen Tagen verwandelt es sich wieder in ein Gesicht. Manchmal wird das Gesicht zum Gesicht eines Mannes. Dann sieht er aus wie ein Schutzengel.

Selbst an Tagen, an denen ich mir fast sicher bin, dass er echt ist, und ich meine Jalousien schließe, wenn ich weine oder mich umziehe, denke ich, er existiert nur in Bezug auf mich – dass ich ihn erfunden habe. Wenn ich meine Schwester am Telefon frage, sagt sie: Oh, dieser Typ. Ja, er war schon immer da. Sie hat auch keine Angst vor ihm.

Sie kommt für den Sommer nach Hause und wir gehen in sein Gebäude und fahren mit dem Aufzug zu seiner Etage. Wir schauen auf seine Tür.

Sie sagt: Weißt du, was komisch ist? Die ganze Zeit bin ich erwachsen geworden und jetzt wirst du erwachsen, aber er ist überhaupt nicht gealtert.

Ich sage ihr, ich weiß nicht, wie er aussieht. Ich kann nicht sagen, wer von den Leuten da draußen er ist.

Ich weiß welcher, sagt sie. Er hat sich nicht verändert.

Danach muss ich, wenn ich sie zum Lachen bringen will, nur noch sagen, ich glaube, ich habe heute die Ewige Jugend gesehen.

Ich gehe aufs College und komme zurück. Am letzten Tag des Sommers bemerke ich, dass ich ihn überhaupt nicht gesehen habe. Ich rufe meine Schwester an und sage, die ewige Jugend ist weg. Glaubst du, er ist weggezogen?

Sie sagt, sie fühlt sich, als ob er gestorben ist. Vielleicht hat sie recht. Ich bin überrascht. Ich dachte wirklich, er würde für immer leben.

III.
Du lässt die Leichen, die dich gemacht haben, in der Stadt, die dich getötet hat. Schluck deine Zunge, kreise zweimal, bevor du landest.

Zum pulsierenden Hals des Ufers kommst du, wie ein Speer seinen Bogen für den Tierarm versüßt. Stelle dich mit kirschäugigen Augen auf die Rippe eines neuen Landes, esse den Wirt und beobachte, wie die Riffe bluten.

Der Weg, den ein sich bewegendes Objekt als Funktion der Zeit durch den Raum geht, wird von einer Sprache geschützt, die Fleisch und Moleküle ersetzt. Ein Engel der Taubheit teilt das Thema in eine Reihe von Zuständen auf. Die Folge von Werten kann berechnet werden, indem Jahreszeiten ignoriert und die Striche auf ein Element der Quelle zurückgezählt werden. Die Karte deiner Frakturen heilt in Blattgold.

Jeden Tag machst du fünfzig Liegestütze, schreibst fünf Seiten. Wirfst sie wie tote Bräute ins Meer. Nachts ziehst du eine schwarze Bremse und deine Träume fackeln die Wände ab. Bürokratie schmilzt in deinem Mund und streift den verspiegelten Magen des Ozeans.

Du lebst wie drei Bären: ein Bett, ein Stuhl, eine Schüssel, ein Löffel, ein Körper, der genau richtig ist – weich, wild, zukunftslos.

 


 

May-Lan Tan ist die Autorin der Kurzgeschichtensammlung »Things to Make and Break« und des Chapbooks »Girly«. Ihre Belletristik ist bei Zoetrope: All-Story, The Atlas Review, The Reader und Areté erschienen. Sie wohnt in Berlin.

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