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›Junivers‹ von Michael Ebmeyer

›Junivers‹ von Michael Ebmeyer

»El ascenso de un miembro inferior« (Humberto Quino)

Humberto Quino ist in Bolivien eine lebende Legende, es schmeichelt mir sehr, ihn übersetzen zu dürfen. Als »poeta sucio« gestattet er sich keine Ausflüchte, keine Vagheiten. In seiner Lyrik sitzt jedes Wort, sie kann abgrundtief bitter sein und gnadenlos komisch. Eins meiner Lieblingsgedichte von Humberto Quino heißt El ascenso de un miembro inferior – darauf, dieses kleine, spöttische Meisterwerk ins Deutsche bringen, freute ich mich besonders. Und dann bin ich gleich am Titel gescheitert.

Die Beförderung eines nachrangigen Mitglieds?

Aufstieg einer niederen Gliedmaße?

Allerdings kann miembro auch das männliche Glied sein, und das hat ja ebenfalls Aufstiegschancen. Andererseits: Stellen nicht schon die ersten beiden Gedichtzeilen klar, worum es geht? Mi pie / ¡Mil veces bendito sea! – »Mein Fuß / Tausendfach sei er gesegnet!« Was tut der Fuß in den folgenden Versen? »Er wächst / er wächst«, »durchbohrt die Vorhalle«, »geht aufrecht« … Ist pie vielleicht doch Platzhalter für pene, polla, pito, all die ebenfalls mit P beginnenden spanischen Wörter für Penis? Geschildert wird, wie der Fuß im Triumph das Zentrum von La Paz durchquert, bis zum Regierungspalast, und die Macht übernimmt. Das Gedicht ist von 1980, als Bolivien unter Übergangspräsidentin Lidia Gueiler ein paar Monate Demokratie zwischen zwei Militärregierungen hatte erleben dürfen. Der Fuß könnte ein Soldatenstiefel sein. Oder eben ein Bild für die Rückkehr strammstehender Männlichkeit nach dem kurzen Hoffnungsschimmer.

Also besser eine freiere Übersetzung des Titels? Wohin ein unerhebliches Glied steigt? Aber nein, der steife Nominalstil ist doch Teil des Witzes. Zudem bilden die Worte El ascenso de un miembro den klassischen achtsilbigen Vers einer Copla, dem das Attribut inferior wie ein Wurmfortsatz angehängt ist … Ich werde mich verheddern, werde am Ende wahrscheinlich doch bei Aufstieg einer niederen Gliedmaße bleiben und kann nur hoffen, dass meine Übersetzung des Gedichttexts mein Scheitern am Titel einigermaßen wettmacht.

 

Michael Ebmeyer

wurde 1973 geboren, ist Autor und Übersetzer, hat Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht (eigene Lyrik nur selten). Zuletzt hat er eine Auswahl von Gedichten Humberto Quinos aus dem Spanischen übertragen, die unter dem Titel »Jemand anders sein und es nicht wissen« im Herbst 2021 bei hochroth Heidelberg erscheint.

Auch 2021 versetzt uns ein virtuelles JUNIVERS in den Kosmos der Poesieübersetzung. JUNIVERS spannt einen Bogen über viele Stationen und Interventionen bis hin zum 30. Juni, an dem ein internationales Übersetzungslabor und öffentliches JUNIVERZOOM zu Gedichten aus „Cosmos“ (Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2020) von Dana Ranga das Programm beschließt. Den gesamten Monat hindurch werden ›Juniverse‹ veröffentlicht: Verse, die eine besondere übersetzerische Herausforderung veranschaulichen und das Universum der eigenen Sprache und poetischen Tradition aufscheinen lassen – eine virtuelle Anthologie!

JUNIVERS ist ein Projekt des TOLEDO-Programms. Kooperationspartner sind der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, die Stiftung Preußische Seehandlung und das Goethe-Institut.

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