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Jonathan Lyon: »Nocebo«

Jonathan Lyon: »Nocebo«

Übersetzung aus dem Englischen: Lisa Jeschke

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1.

Der Dritte Weltkrieg hatte begonnen.
Niemand wusste es außer mir.
Im Fieber fühlte ich mich unwirklich.
Ich brauchte ein Heilmittel für mein Fieber.
Ich brauchte ein Heilmittel für den Krieg.

Ich war in der Mitte einer Wiese.
Ein Junge war auch auf der Wiese.
Ich konnte das Gesicht des Jungen nicht sehen.
Aber der Junge ging auf mich zu.
Mitten über die Wiese.

Plötzlich stürzte sich ein Mann auf den Jungen.
Mitten auf der Wiese.
Vielleicht war das Teil des Krieges.
Oder vielleicht war das Teil meines Fiebers.
Aber ich rannte auf den Mann zu.

Ich zog den Mann von dem Jungen weg.
„Das dein Freund?“ Schrie der Mann.
Der Mann schlug den Jungen.
Und der Junge fiel von mir weg.
Aber ich konnte das Gesicht des Jungen jetzt deutlich sehen.

Der Dritte Weltkrieg hatte begonnen.
Im Fieber fühlte ich mich unwirklich.
Aber ich konnte das Gesicht des Jungen jetzt deutlich sehen.
Das Gesicht des fallenden Jungen war sehr schön.
So schön dass es wie ein Heilmittel schien.

2.

Ich sah den Jungen fallen.
Über die Mitte der Wiese.
Und ich fühlte mich als hätte ich den Jungen schon einmal fallen gesehen.
Über die Mitte anderer Wiesen. In Träumen.
Der fallende Junge war bewusstlos.
Aber der Fuß des Jungen war unter dem Stiefel des Mannes eingeklemmt.
Der Junge fiel zu Boden.
Der Beinknochen des Jungen knackte.
Der Beinknochen des Jungen war gebrochen.
Aber der Junge wachte nicht auf.

Der Mann machte einen Schritt von dem Jungen weg.
Der Mann sah jetzt jünger aus.
„Scheiß betrunkene Chavs.“ Sagte der Mann. „Ihr hättet mich nicht angreifen sollen.“
„Ich kenne ihn nicht.“ Sagte ich.
Der Mann schubste mich zu Boden.
Im Fieber neigte sich die Wiese seltsam.
Ich konnte nicht wieder aufstehen.

„Hey!“ Rief eine Frau.
Eine Frau kam auf uns zu. Von der anderen Seite der Wiese.
Der Mann lächelte. Der Mann hatte keine Angst vor der Frau.
„Du hast den da noch nie gesehen?“ Fragte der Mann.
Ich schüttelte den Kopf. Nein.
„Du bist also der neue Junge?“ Fragte der Mann.
Ich nickte. Ja.
Glockenblumen wuchsen am Himmel. Hinter dem Mann. Wie Glockenblumen in schlesischen Wäldern.
„Warum hast du ihn verteidigt?“ Fragte der Mann. „Du bist nicht in seinem Team.“
Ich antwortete nicht.
Der Mann lachte.
„Wir haben ihn für dich gehalten.“ Sagte der Mann.
Die Glockenblumen am Himmel passten zur Augenfarbe des Mannes.
Die Glockenblumen am Himmel passten zur Hauttönung des Mannes.
Ich wandte meinen Blick ab.
Der Stiefel des Manns schwebte über meinem Gesicht.
„Du bist jetzt in Eton College.“ Sagte der Mann. „Ich bin der Sprecher in deinem Haus.“
Der Haussprecher fuhr mit dem Stiefel über meinen Arm.
Die Steinchen in den Rillen rissen mir die Haut auf.
„Du bist jetzt also in meinem Team.“ Sagte der Haussprecher.
Der Haussprecher lief weg.

Ich wollte mich erbrechen.
Die Schürfungen an meinem Arm bluteten.
Die Farbtupfer am Himmel schmolzen.
Im Fieber fühlte ich mich unwirklich.
Aber Gewalt fühlte sich vertraut an.
Wenigstens hatte ich etwas Vertrautes gefunden. In diesem fremden Land.
Und wenigstens war ich neben dem gefallenen Jungen gefallen.
Ich wollte nicht in dem Team des Haussprechers sein.
Ich wollte in dem Team des gefallenen Jungen sein.
Ich wollte ein Heilmittel für mein Fieber.
Ich wollte ein Heilmittel für den Krieg.
Ich wollte den gefallenen Jungen aufwecken.

3.

Ich wandte mich dem gefallenen Jungen zu.
Das Gesicht des gefallenen Jungen an meinem Gesicht.
Das Gesicht des gefallenden Jungen war sehr schön.
Der Junge war in meinem Alter. Vielleicht sechzehn.
Die Augen des Jungen waren geschlossen. Die Nase des Jungen blutete.
Der Junge hatte schwarze Haare. Akne. Geschwollene Lippen. Sonnenbrand.
Ich hatte mir einen Schiffsjungen vorgestellt. Einen Schiffsjungen auf einem Boot. Ein Messer im Mund. Unter uns Wellen.
Und dann brach eine Welle über uns. Jetzt. Hier.
Die Welle peitschte das Fieber aus meinem Kopf.
Die Welle war ein Flugzeug. Zu laut. Zu tief.
Das Flugzeug steuerte zu einer Bruchlandung auf der Wiese zu. Über uns.
Ich warf mich über den Jungen. Um ihn vor dem Flugzeug zu schützen.
Da begann der Junge an seinem Blut zu würgen.

Ich versuchte den Jungen auf die Seite zu drehen. Mit Kraft die ich nicht hatte.
Die Schürfungen an meinem Arm bluteten. Die Nase des Jungen blutete.
Mein Blut vermischte sich mit dem Blut des Jungen. Meine Hand lag in der Hand des Jungen.
Und etwas in mir öffnete sich.
Das machte das Blut des Jungen. In meinem Blut. Das machte die Hand des Jungen. In meiner Hand.
Etwas in mir öffnete sich.
Das Fieber öffnete mir die Sinne. Sie verschmolzen miteinander.
Der Klang des Flugzeugs öffnete sich zu etwas Fühlbarem. Honig.
Der Schmerz in meinem Arm öffnete sich zu einem Duft. Orangenblütenduft.
Der Duft wurde stärker wenn ich den Jungen anblickte.

Der Junge hörte auf zu würgen.
Ich löste mich von der Position auf dem Jungen.
Der Junge hatte etwas in mir geöffnet.
Und nun erfüllte der Orangenblütenduft meine Sinne.
Ich erbrach mich. Auf der Wiese. Abgewandt vom Jungen.
Der Himmel nahm die Farbe von Honig an. Das Flugzeug war nicht mehr da.
Ich drehte mich wieder zum Jungen.
Der Junge hatte etwas in mir geöffnet.
Der Junge war nicht mehr da.

4.

Neben mir stand eine Frau.
„Was zum Teufel ist passiert?“ Fragte die Frau.
Die Frau hatte einen nordenglischen Akzent.
„Kannst du aufstehen?“ Fragte die Frau. „Komm schon. Ich stütze dich. Ich bin Pat.“
Pat half mir auf.
„Da war ein Junge.“ Sagte ich.
Pat führte mich über die Wiese.
„Der Junge hat mein Fieber geöffnet.“ Sagte ich. „Unser Blut hat sich vermischt. Dann sind meine Sinne verschmolzen.“
Vor uns stand eine Kirche.
Pat schob mich vorwärts. In die Kirche hinein.
Vor uns standen zwei Männer. Sie trugen den Jungen.
„Das ist der Junge!“ Sagte ich. „In seinem Inneren sind Orangenblüten.“
Der Junge wurde auf ein Bett mit Rollen gelegt.
„Ja.“ Sagte Pat. „Er wird von dem Arzt für die Königin behandelt werden.“
Ich wollte zum Jungen gehen. Pat hielt mich zurück.
Der Junge wurde durch eine Tür fortgeschoben.
Orangenblütenduft erfüllte meine Sinne.

„Du brennst ja.“ Sagte Pat.
„Mir ist kalt.“ Sagte ich.
Pat brachte mich auf ein Krankenzimmer.
„Setz dich.“ Sagte Pat. „Wir warten hier gemeinsam auf die Krankenschwester.“
„Was ist das hier?“ Fragte ich.
„Die San.“ Sagte Pat. „Eine Krankenstation.“
„Aber …“ Sagte ich.
„Es war mal eine Kirche.“ Sagte Pat.
Ich schloss die Augen.
„Wird es immer so sein?“ Fragte ich.
„Wird was immer wie sein?“ Fragte Pat.
„England.“ Sagte ich. „Eton. Wird es hier immer so … unwirklich sein?“
Pat lachte. Pat hatte das Lachen einer Raucherin.
„Du bist also der Neue?“ Fragte Pat.
„Ich bin gerade vom Flughafen gekommen.“ Sagte ich. „Ich bin im South-Lawn-Haus.“
„Genau.“ Sagte Pat. „Ich arbeite im South-Lawn-Haus.“
„Sie haben mich über die Wiese geschickt.“ Sagte ich. „Um den Arzt zu finden. Weil ich Fieber hatte. Aber der Haussprecher hat einen Jungen angegriffen. Vor meinen Augen. Da ist Krieg. Am Himmel.“
Pat sagte darauf etwas. Aber ich konnte nichts verstehen.
Die Farben schwanden aus ihr.
Zugleich schwand auch ich.
Ich schwand in eine Farbe jenseits aller Farben. Ich schwand in einen Geschmack jenseits aller Geschmäcker.
Ich schwand in den Schmerz eines Duftes. Der Schmerz des Dufts des Orangenblütenjungen.

5.

Ich wachte auf.
An meiner Seite eine Schwester. Umkreisung meiner Kopfschmerzen. Ihre Kleidung aus Mitternacht gewebt.
„Wie geht es dem Jungen der mit mir eingeliefert wurde?“ Fragte ich.
„Wir haben herumtelefoniert.“ Sagte die Schwester. „Niemand weiß was von ihm. Vielleicht ist er nicht vom Eton College.“
„Er ist vom Eton College.“ Sagte ich. „Glaube ich. Aber er kommt nicht … aus meinem Haus. Was hat er?“
„Das darf ich nicht verraten.“ Sagte die Schwester.
„Aber ein einziger Schlag hat ihn bewusstlos gemacht.“ Sagte ich. „Ich bin bei ihm geblieben. Habe ihn umarmt. Er konnte nicht aufwachen.“
Das Lächeln der Schwester schien mehr über mich zu wissen als ich selber.
Ich versank wieder im Fieber.
Wachte in Deutschland auf.
Hatte Metallzähne am Gehirn.
Machte das Licht an.
War wieder in England.
Auf meinem Nachttisch Kodeintabletten. Ich nahm sie ein.
Dann gab es ein krachendes Geräusch vor meiner Tür.
Eine fluchende männliche Stimme.
Und die Nacht wechselte die Farbe. Wechselte den Duft. Fühlte sich anders an.
Das war die Stimme des Orangenblütenjungen.
Ich hörte sie zum ersten Mal. Ich wusste dass es seine war.
Ich zwang das Fieber mich aufstehen zu lassen.
Meine Gedanken strömten in die Tiefe.
Ich verließ mein Zimmer.
Der Junge war vor mir. Nah genug für eine Berührung.
Der Junge stützte sich auf Krücken. Trug einen Papierkittel.
Der Junge wurde vom Mondlicht beleuchtet. Durch die Kirchenfenster.
Der Junge starrte mich an. Opium in den Augen. Ich starrte den Jungen an. Opium in den Augen.
Orangenblütenduft erfüllte meine Sinne.
Der Junge war kleiner als ich. Dem Jungen war die Nase mit Gaze verbunden.
Mein Mund auf der Höhe seiner Stirn. Ich könnte auf ihn zugehen. Könnte seine Stirn küssen.
Mein Mund bewegte sich nicht. Meine Füße bewegten sich nicht.
Ich wollte dass der Junge etwas sagt.
Stattdessen lachte der Junge.
Und sein Lachen klang wie der Beginn meines Lebens.

 


 

Jonathan Lyon was born in London, and moved to Berlin in 2013. His debut novel, »Carnivore«, was published in 2017. His short stories have been published in UK and Germany. He also writes films.

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