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Ghayath Almadhoun: »Évian«

Ghayath Almadhoun: »Évian«

Übersetzung aus dem Arabischen: Larissa Bender

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Letztes Jahr, um nur ein Beispiel zu nennen, starb ein mit Flüchtlingen voll besetztes Boot an Herzinfarkt; als das erste Schiff den Unglücksort erreichte, war das Mittelmeer schon untergegangen. Man fand Wasser, das erstickt war; man fand Wellen, die klatschnass waren; man fand die Europäische Union, die versuchte, sich an ein Stück Holz aus den Überresten des Bootes zu klammern, um sich zu retten. Die Kinder fand man nicht.

Erste Untersuchungsergebnisse bewiesen eindeutig, was auf den Satellitenbildern zu erkennen gewesen war: dass das untergegangene Boot nicht hatte schwimmen können.

In den Zwanzig-Uhr-Nachrichten, als das Wasser des Mittelmeers ganz ruhig aus dem Fernseher auf die Parkettfußböden der Wohnzimmer floss und die glücklichen Familien in den sicheren Ländern verunsicherte und eine gewisse Unruhe im Sexualverhalten der schweigenden Mehrheit in Mittel- und Nordeuropa verursachte, fragte eine Europäerin der Mittelschicht so überraschend wie das plötzliche Wachstum der Pilze im Wald, warum sie über das Meer gekommen seien statt mit einem gültigen Visum im Flugzeug. Überwältigt von dieser ungeheuerlichen weißen Unschuld beging der Fernseher Selbstmord.

In seinem Telefonkommentar zu dem tragischen Ereignis sagte der Integrationsbeauftragte der Migrationsbehörde: Was machen wir jetzt? Die neue Fracht Flüchtlinge, die den alten europäischen Rentnern den Hintern abwischen sollte, ist tot!

In den Zwanzig-Uhr-Nachrichten zitierte eine weiße Nachrichtensprecherin, die noch keine Kinder hatte, einen Nahostexperten, der den Nahen Osten noch nicht bereist hatte, mit den Worten: Womöglich sind die Kinder aus postmodernen Gründen verschwunden, als sie Verstecken spielten.

Jesus, der Sohn von Maria, war der einzige Überlebende. Sie fanden ihn, wie er über das Wasser lief.

Anmerkung 1:
Sie werden uns unsere Arbeit und unsere Wohnungen nehmen, sie werden unsere Frauen verführen, sie werden die Ressourcen an sich reißen, die wir für die Armen vorgesehen haben, Verbrecher und Spione werden sich unter sie mischen, sie werden die Stabilität ins Wanken bringen, und es wird zum Zerfall der Gesellschaft kommen. Sie sehen scheußlich aus, sie übertragen Krankheiten, sie haben unterschiedliche Werte und eine andere Kultur und eine seltsame Moral und sie werden sich nicht integrieren können.

Anmerkung 2:
Die rassistischen Worte in Anmerkung 1 verweisen nicht auf die derzeitige sogenannte Flüchtlingskrise, mit der die syrischen Flüchtlinge gemeint sind. Mit diesen Worten wurden in der westlichen Presse die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich beschrieben, die vor dem Zweiten Weltkrieg versuchten, dem Nationalsozialismus zu entfliehen.

Anmerkung 3:
Im Jahr 1938 trafen sich zweiunddreißig Staaten auf der Konferenz von Évian, um über die Krise der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich zu beraten. Die Vereinigten Staaten lehnten eine Erhöhung der jährlichen Flüchtlingskontingente sogar schon vor Beginn der Sitzung ab. Großbritannien erklärte, das Königreich sei kein Einwanderungsland. Alle Staaten weigerten sich, die Flüchtlinge aufzunehmen. Am 13. Juli schrieb der Völkische Beobachter, die Parteizeitung der Nationalsozialisten, im Tonfall des Triumphs: »keiner will sie haben.«
(Ich habe das Gefühl, es war Adolf Hitler persönlich, der den Artikel schrieb). Vier Monate nach Ende der Konferenz begingen die Nationalsozialisten die „Kristallnacht“, dann begannen sie sukzessive mit der Lösung des Judenproblems auf ihre eigene Art und Weise, die, wie wir wissen, die „Endlösung“ war.

 


 

Ghayath Almadhoun is a Palestinian poet born in Damascus, Syria, and emigrated to Sweden in 2008. Now he lives in between Berlin. He has published four poetry collections in Arabic and his work has been translated into dozens of languages. Almadhoun collaborated with other poets and artists and his poetry has been part of work by US artist Jenny Holzer and German musician Blixa Bargeld, and others. His latest collection »Adrenalin«, published in English by Action Books 2017, was among SPD Poetry Bestsellers in the US, and was nominated for the 2018 Best Translated Book Award. His selected poems »Ein Raubtier namens Mittelmeer« (»Predator called the Mediterranean«), Arche Verlag, 2018, ranked top of the Litprom-Bestenliste 2018 of best books translated into German. He was granted the one-year-long DAAD Artists-in-Berlin Program award scholarship. Lately, his poetry film »Évian« won the Zebra Best Poetry Film Award 2020.

www.ghayathalmadhoun.com

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