Minsk, den 12.11.2020

Bei der Übersetzung eines Lehrbuchs für Weltliteratur feile ich gerade an einem Satz über den im Heldenepos semantisch wichtigen Kontrast zwischen Alltag und Ausnahme, Ordnung und Bruch, Routine und besonderer Aufgabe, Ruhe und tödlichem Konflikt. Das kenne ich doch aus dem jetzigen Leben in Belarus. Wie so viele verfolge ich an diesem Tag das Schicksal des 31-jährigen Roman Bondarenko, der seine Wohnung, seinen Alltag für die besondere Aufgabe verlässt, um die Stoffstreifen in Protestfarben vor vermummten ‚Ordnungshütern‘ zu schützen. Die belarussische ‚Ordnung‘ duldet keine sichtbaren Symbole des Protests im öffentlichen Raum. Roman wird so schwer verprügelt, dass er später im Krankenhaus stirbt.

Noch ein Held des belarussischen Protests. Eine Gesellschaft mit Helden ist eine ohne Routine, ohne Ruhe und ohne Alltag. Wo sind wir ohne den Schutzmantel des Alltags? Gibt es Handlungen, die auch in der haltlosen klaffenden Existenz ausführbar bleiben? Kerze anzünden? Nach Worten greifen? Welche Worte bleiben denn in der klaffenden Existenz aussprechbar? Das Auge fällt auf einen Band von Paul Celan. Er gehört zu den Autoren, von denen ich dachte, ich werde sie nie übersetzen, die wären so unerreichbar für mich. Ich kann Celans Gedichte immer lesen, aber Celan zu übersetzen ist wie Rausgehen ins offene Weltall.

„Ich gehe raus“ waren die letzten Worte von Roman Bondarenko.

Am selben Abend übersetze ich ein Gedicht von Celan, in dem es um die Schwere geht, die sich in ein Gewicht verwandelt, das die Leere zurückhält. Celans Gedicht wirkt tatsächlich wie ein Gewicht, wie ein Anker, der einen mit dem Grund verbindet, wenn man vom Strom weggetragen wird. Der Strom ist nicht weg, aber der Grund ist jetzt spürbar, auch wenn ganz im Jenseits des Alltags. Ob wir irgendwann als Gesellschaft in die Routine und Ordnung zurückfinden? Im Moment ist es wahrscheinlich zu früh, sich solche Gedanken zu machen, ich teile erstmal meinen Celan-Anker mit anderen, vielleicht ist er noch für jemanden brauchbar.

Außer dem Gedicht teile ich auf Facebook ein Foto von der Kerze, die ich wie viele andere Menschen im ganzen Land zum Gedenken an den ermordeten Roman Bondarenko anzünde. Als Hintergrund für meine Kerze wähle ich die Grafik von Antonina Slobodtschikowa, auf der geschrieben steht: „Beleidige keine Menschen“.