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Bahram Moradi: »Tahmines Auflehnung«

Bahram Moradi: »Tahmines Auflehnung«

Romanauszüge

Übersetzung aus dem Persischen: Kurt Scharf

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Der Fahrer

Ich fuhr gerade auf einer der Nebenstraßen des Faramarzboulevards, da tauchte plötzlich eine dunkle Gestalt circa fünf Meter vor dem Auto in meinem Augenwinkel auf. Ich trat auf die Bremse. Dann sprang ich raus. Ich stand zwei Meter vor ihr. Es war eine alte Frau. Sie hatte doch hoffentlich nicht Corona? Anscheinend war sie mit dem Gesicht auf die Erde gefallen. Sie strampelte mit Händen und Füßen, um aufzustehen. Es war niemand auf der Straße. Ich fragte: „Ist Ihnen was passiert, Mutter?“ Sie drehte den Kopf zur Seite. Ihre Augen waren leer. Sie flüsterte: „I-ich bi- bin hingefallen.“ Ich fragte zurück: „Sind Sie o.k.?“ Sie antwortete: „Keine Sorge, mein Sohn.“ Ich hakte nach: „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ Sie erwiderte: „Parkinson.“ Ich griff ihr unter den Arm und half ihr auf. Sie war schlapp wie ein Sack voll Knochen. Ich erkundigte mich: „Wo wohnen Sie? Soll ich Sie nach Hause bringen?“ „Ich schaffe es schon alleine, mein Sohn.“ Ich setzte sie in mein Auto und fragte: „Wo wohnen Sie, Mutter?“ Sie murmelte: „Ich wollte Sandwiche… für meine Enkel.“ Ich meinte: „Bei der Hitze? Nun, können ihre Enkel nicht selber Sandwich kaufen gehen?“ – „Sie haben doch solchen Hunger.“ Sie hatte ihren Kopf nach hinten geneigt, und ihr Blick war hohl. Ich bog in den Boulevard ein. Ich wollte wissen: „Zu welchem Sandwichladen?“ Sie stotterte: „E-egal.“ Ich bremste vor einer Wurstbude und fragte: „Ist Ihnen die hier recht?“ Sie sah in die Richtung, dann nickte sie und bewegte die Lippen. Sie wollte aussteigen. Ich hielt sie zurück: „Was soll es sein, ich bestelle es Ihnen.“ Sie bat: „Sechs, sechs Sandwiche.“ Ich ging rüber und bestellte. Sie kosteten 65 Tuman. Ich legte ihr das Päckchen mit den Sandwichen hin und erklärte: „Das macht 65 Tuman.“ Sie starrte mich an, guckte auf ihre Hände, und dann suchte sie ihre Tasche. Aus der Tasche ihres Umhangs holte sie ein paar zerknitterte Geldscheine raus. Ich zählte. „Das sind 40 Tuman, Mütterchen.“ Sie schaute mich an, als ob ich in einer fremden Sprache geredet hätte. Ich legte 26 Tuman drauf und ging bezahlen. Dann setzte ich mich wieder ans Steuer. Ich fragte nochmal. „Wo wohnen Sie, Mutter?“ Sie blickte sich um. Sie jammerte: „Wo, wo sind wir?“ Ich antwortete: „Im Faramarzboulevard.“ Sie: „Achte Gasse.“ Ich wendete und wollte in die Achte einbiegen. Aber sie widersprach: „Nein, die dahinten.“ Ich wandte ein: „Die Achte ist die hier.“ Sie entgegnete: „Nein, es ist die Achtzehnte.“ Ihre Augen waren noch immer ausdruckslos. Einige Stellen in ihrem Gesicht schwollen nach und nach an und verfärbten sich blau. Ich bog in die Achtzehnte ein und fragte: „Welches Haus ist es?“ Mit der Hand bedeutete sie mir weiterzufahren. Vor einem einstöckigen Ziegelbau klopfte sie von hinten an meinen Sitz. Ich hielt an. Sie öffnete die Tür. Ich stieg aus und nahm das Sandwichpaket. Ich griff ihr unter den Arm, damit sie nicht hinfiel. Die Tür des Hauses, das durch einen Zaun von der Gasse getrennt war, stand offen. Sie sagte: „Komm, komm rein, ich gebe dir dein Geld, mein Sohn.“ Ich zog die Schuhe aus. Kein Laut war zu hören. Als wir reinkamen, roch es schlecht. Niemand war in der Diele. Die Türen der Zimmer waren zu. Ich fragte: „Wo sind deine Enkel denn, Mütterchen?“ – „Da sind sie doch… Kinder, Sandwiche!“ Sie setzte sich in einen grünen Sessel und legte den Hinterkopf auf die Rückenlehne. Sie schloss die Augen. Die Hitze in der Diele verschlimmerte den Gestank noch. Zwei-, dreimal fragte ich laut: „Ist niemand zu Hause?“ Es war nichts zu hören. Ich steckte den Kopf in die Zimmer rein. Es war niemand da. Ich legte das Sandwichpaket auf die Theke in der Küche, riss ein Blatt aus einem Heft mit Telefonnummern und schrieb in zwei Zeilen auf, was passiert war. Ich schrieb auch meine Handynummer auf. Dann sagte ich ihr: „Ich gehe jetzt, Mutter. Haben Sie noch einen Wunsch?“ Sie machte einen Moment die Augen auf. Ihr Blick war tot. Sie bewegte die Lippen, aber es war nichts zu hören. Ich ging raus und machte die Haustür hinter mir zu.

Negin

Das Türschloss war aufgebrochen. Ich kriegte einen Schreck. Ich ging rein. Großmutter saß in ihrem Sessel. Ich fragte: „Warum ist das Türschloss kaputt, Omi?“ – „Aufgebrochen.“ – „Von wem denn? Sind Diebe gekommen.“ – „Nein, das waren die da.“ – „Die da? Wer sind die da?“ Sie starrte mich an. Dann sagte sie: „Nimm dir eine Apfelsine.“ Sie zeigte neben sich, wo eine Tasse Tee auf einem Beistelltisch stand. Auf dem Tischchen gegenüber auf der andern Seite des Sessels stand auch ein Teller, auf dem etwas Obst lag. Ich fragte. „Hast du Besuch, Großmutter?“ Sie antwortete: „Meymanat ist hier.“ Ich hakte nach. „Die Tante?“ Sie sah sich um. Ich fragte weiter: „Ist sie auf der Toilette?“ Sie antwortete nicht. Aus dem WC war nichts zu hören. Leise sagte ich: „Ach, diese pingelige Tante, sie wäscht sich hundertmal die Hände, bevor sie endlich rauskommt.“ Großmutter deutete mit dem Gesicht zu der Seite, wo der Tee und der Teller der Tante waren, und sagte halblaut: „Äh Mardschan?“ Ich erwiderte: „Sehe ich denn etwa aus wie Mardschan, Omi? Ich bin Negin. Jetzt sag mal, warum ist das Schloss kaputt.“ Sie schaute mich prüfend an. Dann flüsterte sie: „Ach, Negin.“ Ich erkundigte mich: „Hast du heute deine Tabletten genommen?“ Sie antwortete: „Ja, das Zi- zittern ist weniger geworden.“ Sie starrte auf ihre Hände. Ich erzählte ihr: „Ich habe mit dem Onkel telefoniert, er sagt, wir sollen dir einen von diesen Rollatoren besorgen, damit du besser gehen kannst.“ – „Wenn er an mich denkt, soll er mich mal besuchen kommen.“ – „Du weißt doch, dass man ihn festnimmt, wenn er kommt.“ – „Ich will – will keinen Rollator, dann sehe ich aus wie eine alte Frau.“ – „Aber das ist doch besser als hinzufallen.“ Sie stotterte: „Damals … dies dies…“ und legte die Hand auf die Augen. Ich fragte: „Die Brille?“ Sie antwortete: „Ich hatte sie nicht auf, plötzlich… ein großer Stein…“ Sie verstummte. Dann drehte sie den Kopf zur Haustür und meinte: „Die Klingel.“ – „Was ist mit der Klingel?“ – „Es ist meine Mutter.“ Sie sagte das so, dass ich es geglaubt hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ihre Mutter schon seit Jahren tot war. An der Stelle zweifelte ich wieder daran, dass die Tante wirklich da wäre. Sie schickte sich an, aufzustehen und zur Tür zu gehen, um zu öffnen. Ich erklärte: „Ich mache auf“, und ging zur Toilette. Die Tür stand offen. Es war niemand drin. Von hinten kam Großmutters Stimme: „Komm rein, Eskandar, wo ist Mutter bloß?“
Am Abend sagte ich zu Papa: „Großmama hat Halluzinationen, ihr erscheinen die Lebenden und die Toten.“ Er fragte zurück: „Meine Mutter?“ Mama warf sarkastisch ein: „Nein, die Mutter des Nachbarsohns. Gleich morgen packst du ihre Sachen zusammen und bringst sie zu uns.“ Papa wollte wissen: „Und wo bringen wir sie unter?“ Mama antwortete: „Wir geben ihr unser Schlafzimmer.“ Ich wandte ein: „Aber sie hat Angst vor dem Hund, sie erklärt ihn für unrein.“ Mama erwiderte: „Sie wird sich schon an ihn gewöhnen.“

Tahmine

Ich will mich scheiden lassen, Bahadori. Ich will einen von denen heiraten, die um meine Hand angehalten haben. Du bist doch seit zwölf Jahren nicht mehr da. Behrud lächelt mich aus Negins Handy an und sagt: Papa ist doch vor zehn Jahren gestorben. Ich erwidere: nein, liebe Mama, vor zwölf Jahren. Negin, bring das Essen für Bahadori. Negin entgegnet: Fängst du schon wieder damit an, Großmama? Ich sage: Er ist doch auf Urlaub gekommen. Behrud lacht: Es wäre schön, wenn die Toten auch mal auf Urlaub kämen. Ich frage: Wann kommst du auf Urlaub? Er antwortet: Bin ich etwa auch tot? Ich widerspreche: Nein, du hast bloß Porona. Negin lacht und sagt: Corona, Großmama. Ich fahre fort: Dein Papa muss sich auch noch eine Frau nehmen. Ich spreche, spreche leise, damit die Negin das nicht hört, ich sage: Ich bin dabei, mich von euerm Vater scheiden zu lassen. Der Junge lacht, er fragt: Okay, wer ist denn der Glückliche, wie heißt er, was macht er? Ich antworte: Wenn wir erst geheiratet haben, will ich, dass er mir eins von diesen neuen Handys kauft, damit du Filme von ihm sehen kannst. Er meint: Einverstanden. Ich frage: Geht’s dir besser, mein Lieber? Negin redet dazwischen: Onkel, sag ihr, dass es dir gut geht. Vor zwei Wochen, bevor wir sie zu uns geholt haben, hat sie beim Rettungsdienst angerufen, um zu sagen, dass es dir nicht gut ginge. Ich werfe ein: Hätte ich denn nicht anrufen sollen? Behrud sagt: Liebe Mama, ich bin hier in Deutschland, und es geht mir gut. Ich frage: In Deutschland? Ach, nachher rufe ich den Rettungsdienst an und nehme dich fest in die Arme. Plötzlich höre ich, dass etwas kaputt geht. Zwei, drei dicke Männer standen in der Diele. Ich schreie: Diebe, Diebe. Sie sagen: Wir sind die Ambulanz, Mutter. Seit zehn Minuten klingeln wir. Schließlich haben wir die Tür aufgebrochen. Wo ist der Kranke? Ich antwortete: Hier. Sie sind blind. Sie sehen dich nicht, wie du unter der Decke zitterst, schwitzt und jammerst. Sie erwidern: Sie haben sich das nur eingebildet, gnädige Frau. Soll euch der Teufel holen und seine Großmutter, euch allesamt mit eurem Gerede von Halluzinationen und Einbildungen! Ich will mich von dir scheiden lassen, Bahadori, ich will jemand anders heiraten. Behrud lacht und will wissen. Wen denn? – Sobald du mich besuchen kommst, sage ich es dir.

Ra‘na

Jetzt, wo du hier sitzt und das Foto anguckst, jetzt, wo dir nach den Worten deiner Enkelin die Toten und die Lebenden erscheinen, komme ich, es ist fünfzig Jahre her, hinter dem Fotoapparat hervor und nehme neben dir Platz, liebe Tahmine. Wie sehr sticht einem das ins Auge: das weiße Kleid und das Perlendiadem sowie dein angstvolles Gesicht mit deinen vor Furcht weit aufgerissenen Augen. Nichts von jenem Abend wird dir in Erinnerung bleiben außer der Tatsache, dass du dir gewünscht hättest, dass das Fest nie zu Ende ginge. Denn du weißt nicht, was nachher geschieht. Du hattest gerade erst die neunte Klasse hinter dich gebracht. Dein Vater hat gesagt, dass sogar dies für deinen Kopf zu viel sei. Er meinte, deine Cousine sei nach sechs Jahren Volksschule ins Haus ihres Ehemannes gezogen. Weder er noch die anderen haben gesagt, dass man mich zur Heirat gezwungen hat und dass ich auf diesem Foto eine Tochter namens Schadi habe. Wie alt ist sie hier? Ach ja, vier. Warum bin ich nicht auf diesem Bild? Ich bin auch auf keinem der Schnappschüsse von deinem Hochzeitsabend. Aber jeder Augenblick diesem Abend erinnert mich an meine eigene Hochzeitsfeier. Jetzt lasse ich die auftreten, die auf diesem Foto sind. Von rechts nach links: Das ist Schahnas, die kleine Schwester, von der man nicht weiß, wo sie die Zigarette – ist es eine Zigarette oder ein Papierröllchen? – aufgetrieben hat, die ihr zwischen den Lippen steckt. Zwischen den Schwestern, das kann nur die sein, die auf deinen Rat hin gegen den Willen deines Vaters erst mit über fünfundzwanzig geheiratet hat und sich scheiden lässt, nachdem sie drei Kinder bekommen hat. Ach ja, neben ihr, das ist meiner Meinung nach unser Cousin Nasser. Hier ist er ein Jahr älter als Schadi. Er sollte später ein Genie in Rechnen werden. Nach etwas, was die Leute Revolution nennen, wird er ein Anhänger der Linken, und man richtet ihn hin. Hinter ihm ist die Cousine Mahnas. Sie sollte Krankenschwester werden und Brustkrebs bekommen. Mit dreiundvierzig Jahren wird sie sterben. Neben ihr steht unsere Cousine Fousiye. Zwei Jahre nach dir wird sie verheiratet und zieht nach Abadan. Ihr Mann fällt im Krieg gegen den Irak, und sie kommt mit zwei Kindern in unsere Stadt zurück, wo sie einen pensionierten Oberst heiratet. Vor dir, der Junge, der da sitzt, das ist Huschang, unser kleiner Vetter. Er wird Pilot und gerät in diesem Krieg in Gefangenschaft. Ihr werdet nie erfahren, was ihm zugestoßen ist. Der, der neben ihm sitzt, die Hände vor die Brust hält und schielt, das ist Faramars, der zwei Jahre ältere Bruder von Huschang. Er wird Erdölingenieur; er verlobt sich mit einer Frau, mit der er jedoch nie zusammenlebt, andererseits trennt er sich aber auch nicht von ihr, denn die Familien sind miteinander verkracht, und er bleibt bis zum Lebensende nominell Junggeselle. Hinter dem Kopf von Faramars, das ist deine mittlere Schwester, Schahla. Sie wird deinen Cousin, den älteren Bruder von Fousiye heiraten. Zwanzig Jahre danach schickt ein Mann namens Saddam aus dem Irak etwas, was Familien zerstört und sich Rakete nennt. Sie trifft die Schule, in der Schahlas kleiner Sohn gerade Unterricht hat. Fünfzig bis sechzig Kinder werden pulverisiert. Schahla sollte verrückt werden. Das blonde, hellhäutige Mädchen neben ihr, das sein Kinn auf die Hand stützt und einen Gesichtsausdruck wie eine byzantinische Kaiserin angenommen hat, ist deine Cousine Afat. Was für einen harten, entschlossenen Blick auch sie hat. Sie ist die Einzige in der Familie, die – dank deiner Unterstützung – zur Universität ging, sie sollte es zur Ärztin bringen. Nach der Revolution geht sie mit Mann und Kindern nach Amerika und kehrt nicht mehr zurück. Vor ihr ist auch meine Schadi. Sie schaut hinter die Kamera, dahin, wo ich stehe. Ich hatte gesehen, dass der Fotograf im Begriff war, eine Aufnahme zu machen, und sagte ihr, sie solle schnell machen und sich vor die Braut setzen, um ins Bild zu kommen, und sie ist sich nicht sicher, dass dies der richtige Platz ist. Schadi wird auch eine Linke, kommt ins Gefängnis und flieht nach ihrer Entlassung nach Kanada.

Hier auf diesem Schwarz-weiß-Foto weißt du noch nicht, was aus jedem einzelnen dieser Menschen später werden wird und wie. Du weißt noch nicht, was Revolution, Krieg, Gefängnis und Flucht sind, du weißt noch nicht, dass eine Zeit kommen wird, in der du dieses Bild betrachtest, ohne dir bewusst zu sein, dass dein Mann gestorben ist und dass von den vier Kindern, die du geboren hast, eins hingerichtet worden ist und ein anderes geflohen, und du weißt noch nicht, dass du nicht weißt, dass du nicht weißt, dass…; auf diesem Foto weißt du nur, dass du nicht willst, dass die Hochzeitsfeier zu Ende geht, weil du Angst vor dem hast, was danach kommt. Und jetzt kannst du dich auch daran nicht erinnern. Jetzt starrst du nur auf die Aufnahme und denkst und denkst: „Was bedeutet das Weiß, was ist Furcht, was heißt danach und… Und wer sind diese Leute?“

 


 

Bahram Moradi schreibt Kurzgeschichten und Romane auf Persisch. Bevor er 1988 ins Exil nach Deutschland kam, schrieb und inszenierte er Theaterstücke. Im Iran wurden nur zwei Erzählbände von ihm veröffentlicht; aufgrund der Zensur im Iran veröffentlicht er seine Werke im Ausland. Seine neuesten Romane sind »The Vigilante« (H&S media, London/ 2017) und »Das Gewicht der anderen« (n.n.), die sich mit Korruption und Veruntreuung in den oberen Regierungsetagen und der Unterdrückung von Freiheitskämpfern im Iran in den 80er und 90er Jahren beschäftigen.
www.bahrammoradi.com

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