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Zeit-Mitschriften

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Lesung: Bernd Cailloux und Gerhard Henschel
Moderation: Dirk Knipphals

Wie bringt man die Ambivalenzen einer Epoche literarisch zur Darstellung? Bundesrepublik Deutschland, Mitte der sechziger Jahre: Ein Kind erzählt aus seinem Leben. Ein Erlebnisprotokoll vom Sandkasten bis zur Pubertät, von den ersten Liebesperlen im Hinterhof bis zum Wunschtraum, der neue Eddy Merckx zu werden, der neue Mark Spitz, der neue Gerd Müller oder am besten alles auf einmal. Aus Hunderten von Miniaturen schafft Gerhard Henschels »Kindheitsroman« (Hoffmann & Campe Verlag 2004, dtv 2006) einen Resonanzraum, der den Schrecken, das Glück, aber auch die vielen Grautöne des Alltags in der Wohlstands-BRD aus der Froschperspektive eines Heranwachsenden wiederauferstehen läßt. Gerhard Henschel, Jahrgang 1962, hatte bereits in »Die Liebenden« ein Porträt der Nachkriegsjahrzehnte aus Briefdokumenten gezeichnet.

Bundesrepublik Deutschland, 1965: Auf einem Fortbildungslehrgang für Journalisten lernen sich zwei junge Männer kennen, die gleich spüren, daß sie Großes miteinander vorhaben. Doch noch bremst der Muff der Zeit: Die Schlammstrecke der allgemeinen Wehrpflicht will durchrobbt sein, der dahinterliegende Morast aus bürgerlicher Paarbeziehung und Provinzreporterdasein ebenso. Dann aber geht es Schlag auf Schlag: nach Düsseldorf, ins Beuys-Umfeld, die beiden Freunde gründen eine Hippie-Gartenlaubenfirma, in durchwachten Nächten wird das erste discoreife Stroboskop-Blitzlicht gebaut, Premiere in Hamburgs coolstem Psychedelic-Club, euphorische Verzückung, weiter zu den Essener Songtagen, Frank Zappa, Freakout-Pfingsten, fette Aufträge und der Traum vom antikapitalistischen Betrieb im Kapitalismus – »Das Geschäftsjahr 1968/69« (Suhrkamp Verlag 2005) kommt in Fahrt. Bernd Cailloux, Jahrgang 1945, zeigt die 68er in grellem, aber um so realistischerem Licht: nicht als Polit-, sondern als Start-up-Unternehmen, dessen Visionen, Illusionen, Drogen- und Finanzcrashs unvermutet an die Neunziger erinnern – wie das Technoflimmern an die Flickershows der Sixties. Die unsentimentale Rückschau führt in beiden Büchern ins Innere eines Lebensgefühls. Dirk Knipphals, Literaturredakteuer der taz, moderiert den Abend.

06.12.06

Mittwoch

Ort

Literarisches Colloquium Berlin · Am Sandwerder 5 · 14109 Berlin

Teilnehmer•innen

Bernd Cailloux, Dirk Knipphals, Gerhard Henschel

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