Wie ist das überhaupt möglich?

Im zweiten Jahr Leben im groß angelegten Krieg Russlands gegen die Ukraine bin ich fast nicht überrascht von den Nachrichten über die Gräueltaten der Russen, die Zahl der Todesopfer und den Alarm der Sirenen. Aber ich höre nicht auf, mich über diese verschiedenen Realitäten zu wundern, die sich überschneiden. Wie ist das überhaupt möglich?

Ich bin auf einem der größten ukrainischen Literaturfestivals, das während des Krieges in Kyjiw stattfindet. Wir sind alle froh, uns zu sehen und umarmen uns, als ob es das letzte Mal wäre, wie es später jemand wahrheitsgemäß sagt. Vier Tage lang während des Festivals ertönt die Luftschutzsirene kein einziges Mal und es scheint, es herrscht ein normales Leben. Aber ist nicht fast jede Veranstaltung ein Gespräch über den Krieg, schmerzhaftes Gedenken der Toten und die Anerkennung von Schriftstellern, die durch den Dienst in der Armee gebrochen wurden, dass sie keine literarische Zukunft für sich selbst sehen, sowie prinzipiell keine Zukunft an sich.

Von Kyjiw kehre ich nach Kamjanez-Podilskij zurück, wo wir eine Residenz für LyrikerInnen und Lyrik-ÜbersetzerInnen haben. An dem Tag, als ich mich auf die Moderation einer Veranstaltung über Dichtung aus Bucha vorbereite, erfahren wir, dass unsere Kollegin und Freundin, die Schriftstellerin Viktoria Amelina, bei dem Beschuss von Kramatorsk schwer verletzt wurde.

Ein paar Tage später erfahren wir, dass Vika gestorben ist. Wie ist das möglich, wir haben uns gerade erst auf einem Festival umarmt? Wie ist das überhaupt möglich?

Eine Freundin schreibt mir, morgen gebe es in Kyjiw eine Verabschiedung, und übermorgen die Beerdigung in Lwiw. Wenn ich darüber nachdenke, wo es logistisch praktischer ist, hinzufahren, schaue ich mir die Zugfahrpläne an, welcher Weg weniger Zeit in Anspruch nimmt, wen ich noch treffen kann, ob ich den Friedhof aushalte… Mich packt das Entsetzen. Wie kann man das Wort „Logistik“ neben dem Wort „Tod“ in einen Satz stellen?

Ich fahre nach Kyjiw. Die Verabschiedung findet in der Goldkuppeligen Kathedrale des St. Michaelsklosters statt. Hier sehen wir fast die gleiche Gesellschaft wie neulich bei dem Festival. Alle für sich. Wir weinen und umarmen uns wieder so fest, als wäre es das letzte Mal. Während des Gottesdienstes frage ich mich immer wieder: Wer ist der Nächste? Und dieser Gedanke macht mich gleichzeitig wütend und ängstlich. In was für einem schlechten Film stecken wir plötzlich?

Ich bin nicht gläubig, aber beim Verlassen des Gotteshauses, möchte ich aus irgendeinem Grund ein Foto von seiner Fassade machen, die fast mit dem Himmelblau verschmilzt. Ich weine immer noch, sodass das Foto unscharf wird, aber ich beschließe für mich, dann eben diesen Moment festhalten zu wollen.

Am Abend sitzen meine Freunde und ich auf einem Rasen in der schönsten Gegend des alten Kyjiw. Wir trinken Wein, rauchen, spielen mit einem Hund und sehen irgendwie ziemlich sorglos aus. Plötzlich, nach einem weiteren Witz und Gelächter, sagt Olenka: Haben wir nicht erst heute Morgen von unserer Freundin Abschied genommen? Wir verstummen für einen Moment. Ich weiß nicht, wie in einen einzigen Tag so viele Realitäten passen können.

Wie ist das überhaupt möglich?

Übersetzung: Michael Pietrucha