LCB

Weiße Leinwand

Thomas Stangl

Weiße Leinwand © Thomas Stangl

Weiße Leinwand © Thomas Stangl

Kürzlich sah ich einen auf einem Theaterstück basierenden, von der Bühne in die sogenannte Realität eines eleganten Hauses an der portugiesischen Atlantikküste versetzten Film über ein nicht ganz junges und mir auf den ersten Blick eher unsympathisches Paar. Die beiden trafen sich immer wieder, zwischen den weißen Mauern des Strandhauses, redeten miteinander, sie näherten sich im Reden aneinander an und entfernten sich voneinander. Ein langsamer Film zwischen weißen Wänden, im Hintergrund rauschte das Meer. In einer Szene setzte sich der Mann ans Klavier und begann zu spielen. Plötzlich hob er, mitten im Stück, die Hände, die Musik ging weiter.
Das ist der Moment des Glücks, dachte ich. (Ich spürte es, dachte, es zu spüren.)
Niemand kommentierte im Film diese Szene; jeder Kommentar hätte sie – hätte das Glück, die Magie – zerstört.
Die Hände lösen sich vom Klavier, die Sprache löst sich vom Stoff und wird selbst stofflich, der Halt geht verloren und man lernt zu atmen, sich zu bewegen. An einer Grenze zwischen Film und Wirklichkeit, Text und Nicht-Text, dort wo ich denke, etwas zu spüren, dort wo ich behaupte, etwas zu spüren.
Wenn ich vom Schreiben spreche, möchte ich von diesem Glück, dieser momentanen Magie sprechen. Einem Wechsel auf die andere Seite. Ich vertraue darauf. Ich misstraue meinem Vertrauen. Ich kommentiere und zerstöre es.
Denn schließlich ist das ein simpler Trick, ein Spiel mit den Erwartungen dieser Frau, die dem Klavierspieler zuschaut, des Zuschauers, der ihr beim Zuschauen zuschaut, und in diesem Moment ganz bei ihr ist, ihr so nahe kommt, als wären sie Liebende, im Inneren einer Musik, die aus dem Nichts kommt.
Trick oder nicht: Vielleicht verwandelt sich mitten im Text, mitten im Satz der Stoff, und ich beginne, von etwas anderem zu sprechen. Die Hände lösen sich vom Klavier, stoßen sich ab. Der Impuls braucht einen Widerstand. Je stärker der Widerstand, desto intensiver, desto fragwürdiger aber auch das Glück. Was, wenn nicht die Hände sich von Klaviertasten lösen, sondern einem Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, und es scheint ihm – in derselben momentanen Magie –, er würde lernen, in der Luft zu gehen, vor einer weißen Leinwand?
Wenn man nicht das Glück sieht (paraphrasiere ich Chris Marker), dann sieht man wenigstens das Weiß.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Über gute und böse Literatur«, mit Anne Weber und Thomas Stangl am 14. Dezember 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

Weiße Leinwand © Thomas Stangl

Weiße Leinwand © Thomas Stangl

360