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Unordnung

Heike Geißler

© Heike Geißler

Ich bin auf Unordnung aus. Vielerlei Ordnung ist mir eine Zumutung, denn ich betrachte sie als Selbstgefälligkeit mit der Tendenz zur Gewalt.

Ich versuche auf spezifische Art aufzuräumen und zugleich, ein Mehr/Meer an Unordnung zu erzeugen. Ich möchte, dass dies der unordentlichste Text wird (er wird es nicht), ich möchte, dass ich mir überhaupt keine Mühe gebe, hier an irgendwen zu denken, der/die folgen können sollte, vielleicht folgen möchte. Ich möchte, dass der Text sich selber schreibt, irgendwie, dass er seinem eigenen Lauf folgt, denn den hat er, aber ich unterbreche ihn, oft, um einer Ordnung zu genügen oder um verständlich zu bleiben. Ich will aber in meine Unordnung locken, denn sie ist wild, fröhlich, an keinem Krieg interessiert.

Ich misstraue also nahezu jedweder Ordnung, denn sie hat oft einen hohen Preis: wer ist in der Lage, die notwendigen Ordnungen einzuhalten, sie aufrechtzuerhalten, wer ist es nicht?

Mein Kopf ist nicht mehr darauf aus, eine Geschichte von A nach B zu tragen, er wehrt sich mit Fug und Recht dagegen. Mein Kopf weicht ab, will gleich zu Z oder das Alphabet verlassen. Natürlich lesen wir nicht nur Buchstaben. Mein Kopf will zum Beispiel hinein in Musik, für die ich keine Worte habe, ein Lebensmodell aber schon, in Stille auch.

Das Schreiben soll auf Unordnung hinauslaufen, bis ich Lust habe, es in Ordnung zu überführen. Das aber ist dann meine Ordnung oder eine Ordnung, der ich zustimme. Grundsätzlich kann ich sagen: in einer Hinsicht läuft das Schreiben leichtfüßig auf Unordnung hinaus: In der Wirklichkeit meiner Wohnung. Intensive Arbeitsphasen, Phasen aus Stress und Überforderung überformen meine Wohnung, in der ich mit meiner Familie lebe. Wir können Unordnung aushalten, sie spricht nicht gegen, nicht explizit für uns. Sie ist da.

Unordnung ist nicht per se ein Glücksfall, erst recht kein Notstand. Sie ist ein Umstand, eine Gegebenheit, die ein Ausgangspunkt sein kann, ein Schlupfloch, eine Lücke.
Oder, ich will es so sagen:
„1.BANKIER Das mußte übel enden!
2. BANKIER Diesmal ist es soweit. Wir können unsere Koffer packen!
3. BANKIER würdevoll: Wo die Ordnung geht, geht der Bankier!“

Quelle: Aimé Cesaire: Saison im Kongo. Übersetzung von Heiner Müller. In: Heiner Müller. Werke 7. Die Stücke 6. Übersetzungen. Suhrkamp Frankfurt 2004

 


 

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Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Edit Invites«, Lesung und Gespräch mit Heike Geißler, Sascha Macht, Yannic Han Ciao Federer und Eva Tepest am 06. Mai 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

© Heike Geißler

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