Stoff

Es gibt diese Momente in Gesprächen, bei denen ich sofort weiß: Das ist eine Geschichte, das will ich schreiben.
Ich sehe in diesem Moment eine Emotion, eine Situation, einen Charakterzug, einen Schmerz, einen Verlust, ich sehe es vollkommen klar und sehe die Möglichkeit meine Klarheit in einem Text zu spiegeln. Vielleicht geht es darum: Um die Möglichkeit, die ich erkenne.
Der Text ist immer dann am besten, wenn er als Möglichkeit existiert, als etwas in meinem Kopf, das noch nicht klar eingegrenzt ist durch Wörter und Sätze und Absätze.
Es gibt etwas, dass Dale Pendell dimensional smuggling nennt. Wenn man Drogen nimmt, muss man aus der anderen Dimension, in die man sich begibt, genug mit hier rüber schmuggeln, dass sich der Einsatz an Zeit, Gesundheit, Energie, Neben-, und Nachwirkungen gelohnt hat.
Die Geschichte existiert in dem Moment, in dem es beim Gespräch Klick gemacht hat, bereits in meinem Kopf. Aber dort ist sie nicht verkäuflich, deswegen muss ich sie hierher transportieren, schmuggeln, wenn man so möchte. Es ist nicht vorgesehen, dass man Möglichkeit, Weite und Tiefe in einem Text ohne Verlust wiedergeben kann. Genauso wie es nicht vorgesehen ist, die Muster, die man auf LSD vielleicht sieht, mit Worten wiederzugeben.
Mit jedem Satz, den ich schreibe, wird die Geschichte schlechter. Jeder Satz grenzt ein, legt fest. Aber mit jedem Satz wird mein Ursprungsimpuls greifbarer für andere, sichtbar, nachvollziehbar. Mit jedem Satz schaffe ich Möglichkeit zu Kontakt.
Und das ist das, was Literatur kann: Kontakt zu Innenwelten schaffen.
Der Moment im Gespräch ist meist einer, in dem ich eine tiefe Verbindung zur Innenwelt meines Gegenübers spüre.

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoff für Erzählungen«, mit Iris Wolff, Selim Özdogan und Tobias Schwartz am 16. November 2022.

Materialsammlung »Stoffe«