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STICKSTOFF

Ulrike Draesner

Stickstoff © Ulrike Draesner

Stickstoff © Ulrike Draesner

Stickstoff ist lebensnotwendig. Pflanzen, Tiere und Menschen betreiben großen Aufwand, um ihn an und in sich zu binden. Ungebunden kommt er nicht vor.
Stickstoff ist ein flüchtiges Element.
Und: ein Sprachgeschenk. Eines dieser deutschen Wörter, die konkret und übertragen
bedeuten – wie „Gänseblümchen“ oder „Bindegewebe“. Ein Wort, das nicht nur bezeichnet, sondern von Folgen oder Herkunft handelt, eine Mikrogeschichte erzählt.
Dabei spaltet es sich, zeichnet eine Figur:
Stick-Stoff.
Sticken ist eine traditionelle Frauenkunst. Faden und Tuch – Gewebe, Text. Ich erinnere

mich an meine Großmutter, väterlicherseits. Ihre Stickgeschenke zu Weihnachten. Ihr Platz auf dem Sofa, links, unter der Lampe, den Kopf über den Stickrahmen gebeugt.

Pflanzen, Muster, Schriftzüge traten hervor.
Ich lernte von ihr und entdeckte den Spielraum: Selbst wenn das Bild vorgezeichnet ist,

du triffst es nie ganz.
Deine Hand zeigt sich. Eine stumme, doch lesbare Spur.
Immer gehst du über die Zeichnung hinaus.
Sticken ist eine Sprache.

Stickstoff wird leicht übersehen. Er ist ein wunderbares Versteck. Eine Sprache ohne Worte. Beredt.
Sag, wie man etwas vermisst, wenn man ihm keinen Namen geben kann?
Wie man vermisst, was erstickt wurde?
Wie man spricht, wenn Sprache noch nicht / nicht mehr zur Verfügung steht?
Stoff: In Ovids Verwandlungen heißt sie Procne. Sie lebt im Wald, eingesperrt, die sie

umgebenden Pflanzen sind dunkelgrün, überfüttert, dicht. Der Mann, der sie mehrfach vergewaltigte, ihr Schwager, schnitt ihr die Zunge heraus, damit sie nicht Zeugnis ablegen kann. Mit Bildern, übertragen auf Stoff, spricht sie dagegen an. Sticken ist langsame Schrift.
Stoff: In einer mitteleuropäischen Stadt sitzen Frauen im dunklen Grün eines Gartens. Sie
sprechen nicht darüber, was sie als junge Frauen erlebten, sie sprechen nicht darüber, welche Erinnerungen, welche Vorstellungen der jüngste Krieg in ihnen auslöst. Sie waren Schlesierinnen, Ukrainerinnen, Deutsche, Polinnen. Viele von ihnen Zwangsvertriebene, andere Vertreibungsverweigerinnen. Verloren, verletzt, Pässe im Wechsel, Sprachen im Wechsel, ihre Familien kennen nur einen Teil davon.
Sie stricken Guerilla. Die Bäume über ihnen leuchten, wollumwickelte Äste neben dem
Stickstoff der Blätter.
Wie baut unser Körper Erlebnisse in sich ein? Wie speichern Gedächtnisse, was sie nicht
fassen können?
Die Frauen denkennicht-denken, sie trinken Kaffee, eine summt eine Melodie, eine
andere, es ist jetzt und nimmermehr, befeuchtet ihre Lippen. Sie spüren einander, sind allein-nichtallein. Sie sticken Blümchen auf Kaffeewärmer, Ranken. Sieht niemand hin, stülpen sie die Wärmer auf links, das sich öffnende Polster, halten es zwischen Wärme und Kälte, zwischen Garn und Haut. Sticken Striche in Rot auf, jede eine andere Anzahl, dies und dies. Ist mir. Habe ich. Sie öffnen die Münder, lachen. Lange habe ich sie gesucht; versucht, ihre Geschichten einzufädeln, den Rahmen zu spannen.
Mütter und Töchter. Die einen entbanden uns. Doch wie entbinden wir sie?
Gewalt induziert Scham. Wort um Wort er-sticken, dagegen. Einen eigenen Code

erfinden. Zeichen jagen mit Wolken und Hunden, Mündern und Zungen dahin. Mit Hilfe eines mehrwegigen, die Rollen der Figuren immer weiter befragenden und drehenden Erzählens, mit Hilfe der Erinnerung aus dem eigenen Leben bei gleichzeitiger Auflösung der Ichgewissheit, Stoff wenden und noch einmal wenden.
Als Stickstoff verstehen: langsam, auflösend, rekombinant.
Den Faden durchs Öhr führen, den Faden des Satzes durchs Ich.
Stickstoff.
Durch einen Körper gestickt – geliket (ihm ähnlich gemacht, mit Zuwendung gefüllt).



Image created with Dall-E: a group of white women in a lush garden, in summer, embroidering the tablecloth (#draesnerworkingsofimagination)


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Die Verwandelten«, mit Ulrike Draesner in Lesung und Gespräch mit Thomas Böhm am 09. Februar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Stickstoff © Ulrike Draesner

Stickstoff © Ulrike Draesner

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