Sprachaufenthalt bei den Buddenbrooks

Vor rund zwanzig Jahren habe ich an einem Schüleraustausch teilgenommen, ich reiste in den chilenischen Herbst, nach Valparaíso. Meine Spanischkenntnisse waren bescheiden, und so geschah es sehr zu meiner Verwunderung, dass ich in der fünften Nacht zum ersten Mal in dieser Sprache träumte. Während der Tage zuvor hatte ich bei jeder Gelegenheit dieser fremden Sprache ausgesetzt, und indem ich eisern an diesem Vorsatz festhielt, wurde mir das Kastilische innert weniger Monate zur zweiten Heimat.

Wer sich an Rollenprosa versucht, steht genau vor diesem Problem. Ein Stoff verlangt nach einem gewissen Stil, einer neuen, einer fremden Sprache, die man selten in jenem Moment selten beherrscht, da man mit dem Schreiben beginnt. Hier erst beginnt die Suche nach einer Erzählstimme, und fündig wird man wohl weniger bei Sprechern aus Fleisch und Blut als in anderen Büchern.

Soll dem Stil eine Essenz des 19. Jahrhunderts innewohnen, wird man also bei den Buddenbrooks und Konsorten in die Lehre gehen müssen, ist der Erzähler wahnsinnig, setzt man sich Dostojewski, Hamsun oder Frame aus. An Verzweiflung wird es dem Autor nicht mangeln, und doch wird sich Seite für Seite, Buch für Buch der Abstand des Schöpfers zu seinem Erzähler verringern, bis irgendwann ein passender Stil gefunden sein wird. Der Stil wird zwar nicht der von Mann, Dostojewski oder Hamsun sein, aber einer, den eine Toni Buddenbrooks, ein Raskolnikow oder ein Johann Nagel als natürlich empfunden hätte.

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von der »Buchpremiere: ‚Mr. Goebbels Jazz Band’«, mit Demian Lienhard in Lesung und Gespräch mit Jörg Magenau am 30. März 2023.

Materialsammlung »Stoffe«