LCB

Spiegel

Charlotte Milsch

Lucas Samaras »Mirror Structure – Embrace« (s/w-Ausschnitt) © privat

Ich stehe davor und erkenne mich kaum. Manchmal reicht ein flüchtiger Blick, um es zu entdecken. Meist aber muss ich innehalten, um zu verstehen. Jetzt, da eben, zerren die Reflexionen wieder an meiner Position. Gespiegelt wird, was ich nicht sehen mag. Ist der Gegenstand Schuld, dass ich mich nicht mehr erkennen will? Neben mir drängen sich die Figuren, deren Platz sicher ist: Der Spiegel zeigt nicht, was er soll, erklären sie mir. Ich glaube: Sie wollen nicht sehen, was er zeigt.

Die ersten wenden sich ab, verfluchen das Material. Andere nehmen ein Tuch, verhängen, was nicht gefällt. Die meisten schauen gar nicht richtig hin. Ich denke leise: Als wäre die Lüge so leichter zu tragen. Mit einem Mal schlägt wer durch das Tuch. Entgrenzte Wut, so gar nicht gemäßigt, neutral. Ich wundere mich, dass die Hand nicht blutet. In Bruchstücken erkenne ich einmal mehr, was sie verbergen. Das bleibt. Andere treten nach, Scherben nun überall. Ein Tuch reicht nicht, die Gewalt zu verdecken. Ich räuspere mich und werde zum Schweigen gebracht. Ich frage, wie sie das Zerstören rechtfertigen, und werde belächelt. Ich sage, die Wahrheiten stören, und verschwinde.

Auf einmal bin ich es selbst, ein Blick genügt, gebannt ins Material. Eure Verzweiflung schreit uns mit aller Macht ins Gesicht. Die Tücher zerschneiden wir mit den Klingen der Wunden, die heute nur noch Narben sind. Kein Tuch so dick, dass Spiegel schweigen: Reflexion in die Zukunft, euer Zerrbild Realität.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser »Stoff« ist Teil von Stoffe #8.

Materialsammlung »Stoffe«

Lucas Samaras »Mirror Structure – Embrace« (s/w-Ausschnitt) © privat

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