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Gras

Konstantin Küspert

13_Küspert_Gras © privat

ich bin vier jahre alt und sitze im gras. viele der halme sind so hoch wie ich, ich bin ihr hüter. ich trage eine trachtenlederhose, zum letzten mal für mindestens 35 jahre. ich bin fasziniert von der betriebsamkeit um mich herum. zum letzten mal für mindestens 35 jahre machen mich die zahllosen kleinen willen in ihren chitinpanzern, zwischen denen ich sitze, nicht nervös. wie lukas kümmel aus meiner lieblingskassette betrachte ich, ohne angefasst zu sein. ich bin im zentrum des geschehens. in einer metropole aus zellulose, aufgebaut in wenigen wochen am fuße dieses hügels, kurz vor der straße. der bach fließt unterirdisch, von der pferdeweide kommend, unter der straße durch bis in den fluß, sechshundert meter weiter. er bringt dieses ganze leben, aber das weiß ich noch nicht. ich habe gestern einen frosch gesehen, und frage mich ob er mich heute wieder besucht. ich habe meine froschgummistiefel an. vielleicht kommt wenigstens eine eidechse. vielleicht mit schwanz, jung und optimistisch, vielleicht ohne schwanz, älter, ein grimmiger kämpfer, die begegnung mit der katze überlebt. ich warte. in der stadt gibt es solche wiesen nicht. auch keine frösche oder eidechsen. die gibt es nur hier.

35 jahre später gibt es immer noch frösche und eidechsen, immer noch wiese. immer noch katzen, eine drückt sich gerade auf meinen schoß. nur den ort, an dem ich gesessen bin, den gibt es nicht mehr. wo der garten meiner großeltern war, ist heute eine riesige baugrube. nachverdichtung. ich bin fünfzehn meter und fünfunddreißig jahre weit weg. insekten sind besorgniserregend weniger geworden, die letzten verbliebenen schaffen es trotzdem mich zu nerven. gras ist voller zecken. pollen machen mir allergie. die straße ist zu laut. die infrastruktur hier draußen dennoch beschissen. lederhosen lehne ich ab. ich mache jetzt diesen text fertig, stehe auf und mähe das gras, sonst machts ja keiner.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: Theaterstoffe #2«.

Materialsammlung »Stoffe«

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