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Amazonen-Cruising und Freudenfluss

Laura Méritt

Cruising_Méritt_Amazone © Polly Fannlaf

Amazone © Polly Fannlaf

„Lässt sie ihren Blick bewusst schweifen, um wie ich einen anderen aufzufangen? Oder lässt sie sich einfach Gedanken versunken vom letzten Sonnenlicht streicheln, ohne je vom Amazonen-Cruising gehört zu haben?
Ich habe große Lust ihre Hand zu berühren. Die Aufregung bei dem Gedanken, sie anzusprechen, steigt in mir auf und wird in meinen Lippen zu pulsierender Lust.
Ob ich mich letztendlich traue oder nicht, eine feuchte Zufriedenheit beflügelt meinen Schritt nach einem Besuch an der Amazone allemal.“

Ein historischer Ort und Allgemeinplatz der Freude ist die Amazone am Floraplatz im Tiergarten. An diesem lesbischen Symbol Berlins treffen sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts Frauen begehrende Frauen, um sich gegenseitig zu vergnügen. Cruising, engl. to cruise = Kreuzfahrt machen, umherfahren, flanieren; im speziellen an einschlägigen Orten umherstreunen, um eine Partnerin zu finden; aber auch im Freien, im Park, wo InsiderInnen schon wissen, dass sie bei der Amazone eine finden oder im Rosengarten oder auch an der Fontäne. So steht es im queerlesbischen Wörterbuch von 1994 mit dem Titel „Animösitäten & Sexkapaden“.

Öffentlich Raum zu nehmen, Räume gar zu besetzen ist für diskriminierte gesellschaftliche Gruppen schwierig und schnell gehen diese hart erkämpften Räume wieder verloren. Umso wichtiger ist es, historische Orte der Begegnung zu pflegen. Anfang des 21. Jahrhunderts wurde das Amazonen-Cruising durch das Freudenfluss Netzwerk wieder belebt, und zu Coronazeiten entwickelten sich sogar besondere Formen des distanzierten Frischluft-Sexspiels, die das Prickeln befördern. Trotz aller Datings-Apps ist der Reiz an der direkten erotischen Begegnung groß. Während ich beim Online-Dating schon vorab Bilder von Körpern und Genitalien geschickt bekomme, eröffnen sich beim Cruising neue Formen des Begehrens und der Begegnung. Manch eine hinterfragt so die eigenen Anschauungen. Wie muss meine Sexpartnerin aussehen, damit ich überhaupt in Aktion trete? Wie festgelegt bin ich in dem, was ich will? Wie kann ich einladende Gesten wagen und mich aktiv einbringen? Verstecke ich mich hinter einem Baum und höre dem Rascheln zu oder laufe ich mit einer sofort in den Busch und es wird ein Dreier? Angebote wagen, in Bewegung kommen, voyeuristisch in konsensuellem Kontakt dabei sein und auch Absagen dankend feiern, all das bietet und unterstützt die reale Gruppe mit ihrer Energie. Spielend leicht lernen und gemeinsam Spaß haben, das ist Freudenfluss.

Das Freudenfluss Netzwerk hatte sich 2005 zur Etablierung einer sexpositiven Kultur gegründet, und die Ziele der Frauengesundheitsbewegung bewusst aufgegriffen. Sexualpolitische Kampagnen und Events werden seither durchgeführt, um Worte, Bilder und konditionierte Verhaltensweisen in der Sexualität zu verändern. Sexualität wird für erlernbar gehalten und lustvolle sexuelle Entfaltung über die Fortpflanzungsidee hinaus als ein menschliches Grundrecht angesehen. Das Netzwerk setzt sich für den freien Zugang zu allen sexuellen Informationen und für eine sex-positive Kommunikation ein. Es galt auch, die Sexszene von Frauen und Lesben zu erhalten, die in den 1990ern noch sehr präsent war und wechselnde Cruisingorte kannte. „Klappen auf“ war eine Aktion des feministischen Sexshops Sexclusivitäten, die Lesben an bestimmten Wochentagen zu öffentlichen Toilettentreffs aufrief. Schwule Fickclubs überließen den Frauen einmal wöchentlich ihre Dungeons. Die „Votzen 2000“ sorgten für Aufregungen und luden zum Sex ein, beim „Wildwechsel“ in der AHA ging es schon mal queer zu. Als die letzte Lesben-Sexparty zu Ende ging, legten die Freudenfluss-Partys los. Das Konzept sah vor, verschiedenste Orte für sexuelle Begegnungen zu erobern und möglichst vielen Interessierten die Teilnahme zu ermöglichen. So wurden Kunstateliers oder Saunen gemietet, um die Partys in unterschiedlichen Räumen stattfinden zu lassen und eine sexuelle Raumaneignung von und für Frauen* und queere Personen zu vollziehen.

Ein lustvolles Team animierte und begrüßte Besuchende persönlich und nahm sie wortwörtlich an die Hand. Es wurden Führungen durch den Darkroom angeboten, um achtsame Verhaltensweisen zu vermitteln. Dabei wurden Geschichten über die Agierenden erzählt, um die Fantasie der Betrachtenden anzuregen und um Möglichkeiten der sexuellen Teilnahme aufzuzeigen. Die Darkrooms selbst wurden schön beleuchtet, gemütlich sexy ausgestattet und auch Separées mit halbseidenen Vorhängen abgetrennt, so dass sich auch Pärchen oder kleine Gruppen zurückziehen, aber Voyeur*innen ihr Vergnügen haben konnten. Wir nannten die Sexräume „Lightrooms“, auch um eine ansozialisierte Angst vor der Dunkelheit oder Anonymität in eine sich angenehm anfühlende Atmosphäre umzuwandeln.

Alle wurden eingeladen, sich bewusst einzubringen oder auszuprobieren. Nach dem Prinzip „Die Party seid ihr“ und „Die Bühne ist überall“ waren einige Acts als Stimulantia geplant. Diese wurden weder angekündigt noch besonders beleuchtet, so dass Besucher*innen sich ebenfalls trauten, eigene Performances zu wagen, sich auszuziehen, nackt auf die Bar zu klettern oder sich genüsslich selbst zu versorgen. Schon für die Organisation der Party konnten sich Personen melden und so Berührungsängste abbauen und außerdem an der Gestaltung des sexuellen Infotainments mitwirken.   Einführungs-Workshops zu Konsensfindung, sexueller Kommunikation, Mehrfachbeziehungen und Safer Sex etc. wurden oftmals zu Anfang der Partys durchgeführt, Motto-Partys wie ,Unten ohne‘, ,Bärte‘, ,Brüste‘ oder ,Neukölln‘ regten zum Verkleiden und Spielen unterschiedlichster Rollen an. Bei Fuckerware Partys wurden und werden Spielzeuge vorgestellt und können einzeln oder mit anderen zusammen ausprobiert werden. Auch beim Cruising ermöglicht ein Ficknick das sich Kennenlernen, Spiel und Spaß sind immer dabei.

Feste Orte, die kontinuierlich bespielt werden, sind äußerst wichtig für den Zusammenhalt von Communities. Sie bieten FLINT* (Frauen, Lesben, Inter, Non-Binäre und Trans*-Menschen) einen Safe Space, einen sicheren Raum, in dem sie sich entspannt sich selbst, ihren Körpern und ihrer Sexualität widmen können. Und die Gruppe bietet den besten Schutz, um sich gegen Angriffe und Gewalt von außen zu verteidigen. Deshalb ist heute noch zum Teil eine Art Geheimsprache nötig, die nur Eingeweihte verstehen. Informationen über Orte und Aktionen erfolgen durch Mundpropaganda oder werden in geschlossenen Chats weitergegeben. Langlebige Partys wie „Honey & Spice“, „Das Experiment“ oder „About Blanc“ pflegen Vorgespräche und Nachsorge, gemeinsames Buffet und gegenseitige soziale Fürsorge als Angebot. Drogen sind im Allgemeinen auf diesen Partys weniger gern gesehen, geht es doch mehr um das feinnervige Spüren und Erleben. Auch beim Cruising kann das bewusst Gemeinsame ein durchaus ekstatisches Gefühl erzeugen.

Feministinnen der 1970er Jahre betonten, wie wichtig ein bewusster positiver Zugang zum Körper und damit sich selbst ist. Zum Empowerment und zur Wissensvermittlung etablierten sie die Selbsterkundungs- und Bewusstseinsbildungs-Gruppen. Sie wollten auch positive Worte einführen, um auf die (oftmals unbekannten) vulvarischen Wollustorgane hinzuweisen. Die Potenz wurde in tausendfachen Nervenenden der erigierten Klitoris gefeiert und das anatomische und sexuelle Wissen in Gruppen gemeinsam erlernt. Es galt, über den eigenen Mösenrand herauszuschauen, die Unterdrückung der (weiblichen*) Sexualität als macht- und bevölkerungspolitische Maßnahme zu erkennen und mit lustvoller Energie zu überwinden bzw. darüber hinwegzukommen. Mit dem Freudenfluss, damals die feministische Bezeichnung für die vulvarische Ejakulation, wollten sie alle naß machen. Heute bieten Veranstaltungen wie die Freudenfluss-Partys, Amazonen-Cruising,  Aktionsmonat MösenMonatMärz (MöMo in Anlehnung an das MoMA) Klitoriskunde, Mösenmassagen und vulvarische Erforschungen mit Spritzanleitungen niedrigschwellige Angebote, die dankend angenommen werden. Der Feminist Porn Award, PorYes, präsentiert Darstellungen konsensueller Sex-Praktiken und schreibt die Film-Geschichte um. Freudensalons laden zum theoretischen und praktischen Austausch zu Sex, Politik und Gender ein und sind eine kulturelle Institution Berlins. Hier lässt sich sexuelle Kommunikation jenseits von Scham und Beschämung lernen, mit Freude und Lust an der Entdeckung von Verschiedenheit. Lachen wird als Quelle des Feminismus mit einbezogen, denn Humor bedeutet Feuchtigkeit und feucht fröhlich soll es aufgehen.. Viva la Vulva!

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »komm in den totgesagten park und schau: Cruising als kulturelle Praxis«.

Materialsammlung »Stoffe«

Cruising_Méritt_Amazone © Polly Fannlaf

Amazone © Polly Fannlaf

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