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Erste Liebe

Fatma Aydemir

32_Aydemir_Erste Liebe © privat

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Bis mich jemand darauf angesprochen hat, war mir gar nicht klar, dass mein Schreiben sich immer irgendwie mit der Pubertät beschäftigt. Manchmal sind die Figuren bereits viel älter, im Zentrum der Handlung steht ein ganz anderes Problem, aber die Suche nach den Abgründen und Träumen meiner Figuren führen mich seltsamerweise immer in ihre Pubertät – wie mir nun auffällt. Vermutlich hat es damit zu tun, dass ich eine sehr starke Verbindung habe zu meinem Pubertät-Ich und viele Gefühle und Gedanken aus ihm schöpfen kann. Pubertät als Wort klingt erst einmal nach einer biologischen Tatsache, für mich ist es aber vielmehr als soziologischer Begriff interessant, der die Phase beschreibt, in der wir zu begehren lernen. Im Grunde bin ich beim Schreiben wahrscheinlich nicht mit meiner Pubertät beschäftigt, sondern immer und immer wieder mit meiner ersten Liebe. Das kann die Person, der diese Liebe galt, manchmal miteinschließen, aber meistens tut es das nicht. Meistens geht es ausschließlich um mich, darum wie ich mich damals in Situationen hineinsteigern konnte, wie ich die Kontrolle über mein Benehmen verlor, wie ich litt und unnötig litt. Es gibt keine vergleichbare Phase im Leben eines Menschen (und damit meine ich mich), in der ihm so eine krasse Bandbreite an Gefühlen zur Verfügung stand. Nie wieder lässt er sich in alles Kommende so fallen, wie wenn er zum ersten Mal verliebt ist. Ich schreibe immer nur um meine Figuren herum und dringe erst sehr spät zu ihnen vor, nämlich in dem Moment, in dem ich es wieder schaffe, mich ins Kommende fallen zu lassen, und die Figur mit mir fällt. Der gemeinsame Moment in der Schwebe, bevor wir beide aufprallen, das schnelle Glück in der Haltlosigkeit, die Erkenntnis, dass alles auch ganz anders sein könnte, das ist der Stoff, aus dem meine Figuren sind.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Da-Zwischen«, Lesung und Gespräch mit Fatma Aydemir, Krisha Kops und Gabriel Wolkenfeld am 12. April 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

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