Der Text der Stadt
Florian Neuner
Friedrich Dürrenmatts »Stoffe« sind Fabeln, die er atemlos skizziert, um sie auf diese Weise doch noch zu überliefern – sie, die bislang nicht »zur Sprache gebracht« werden konnten oder sollten; so finden die ungeschriebenen Stoffe letztlich doch eine sprachliche Form. Dürrenmatt sieht seine Stoffe angesiedelt im »Vorsprachlichen«, geht oft von Bildern aus. Ich spreche lieber von Material, und das Material der Literatur ist nun einmal die Sprache. Ohne Reflexion dieses Materials bleiben literarische Anstrengungen im Vorfeld der alltäglichen – alltags-, aber nicht literaturtauglichen – Sprach-Übereinkünfte stecken, im Realismus-Cliché des Erzählens. Unter den Voraussetzungen dieses Clichés ist die Stadt ein Schauplatz; der Regionalkrimi lebt davon, dass die Leser sich freuen, wenn im Text ein ihnen bekanntes Geschäft oder Café genannt oder gar »treffend« beschrieben wird. Die literarische Auseinandersetzung mit dem Urbanen kann beginnen, wenn wir schreibend die Stadt als bloßen Schauplatz hinter uns lassen, ja, wenn die Stadt zur eigentlichen Protagonistin wird. Dann kann eine »Wörterstadt« (Paul Wühr) erbaut werden – aus Wörtern, versteht sich. Dann entstehen fiktive Städte. Waltraud Seidlhofer schreibt: »durch die beschreibung wird eine stadt eo ipso fiktiv. sowohl die reale als auch die irreale stadt verwandelt sich durch beschreibung in eine fiktive stadt.«
Der Autor liest im Text der Stadt, und er wird mit Michel Butor feststellen: »Wo ich auch halt mache, bin ich umgeben, eingekreist von Text.« Der Autor setzt sich mit dem Text der Stadt auseinander, die dadurch zum Material der Literatur wird. Der Text der Stadt setzt sich zusammen aus gesprochenen und geschriebenen Texten, er ist offen zugänglich im Stadtraum oder verborgen in Archiven. In der Stadtlandschaft gibt es viel mehr zu lesen, als der Autor gedacht hätte. Er wird damit niemals fertig. Eine Stadt zu lesen heißt aber auch, sich ihre räumlichen Zusammenhänge, ihre Gestalt zu vergegenwärtigen. Kevin Lynch charakterisiert die »Ablesbarkeit« der Stadt folgendermaßen: »Damit ist die Leichtigkeit gemeint, mit der ihre einzelnen Teile erkannt und zu einem zusammenhängenden Muster aneinandergefügt werden können. Genauso wie diese bedruckte Seite, wenn sie leserlich ist, visuell als ein zuammenhängendes, aus erkennbaren Symbolen bestehendes Muster erfaßt wird, so sind auch bei einer ›ablesbaren‹ Stadt die einzelnen Bereiche, Wahrzeichen und Weglinien leicht zu identifizieren und zu einem Gesamtmodell zusammenzufügen.«
Wer urbane Landschaften auf diese Weise zu lesen versucht, wird in der »Zwischenstadt« (Thomas Sieverts) unserer Vorstädte oder im urban sprawl der USA an Grenzen stoßen. Sieverts warnt vor dem »vergeblichen Versuch, mit Architektur Ordnung zu schaffen« in der »Zwischenstadt«, und plädiert dafür, sich ihr mit dem Erfahrungshintergrund moderner Kunst zu nähern. Er denkt dabei etwa an »die abrupten Schnitte experimenteller Filme« oder »die Abwesenheit eines roten Erzählfadens«. Die Literatur ist gefordert. Ich spreche von literarischer Stadtforschung.
Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.
Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoffe: Flanieren durch Psychogeographien«.
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