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Blätter

Tobias Schwartz

Blätter © Tobias Schwartz

Blätter © Tobias Schwartz

Sie sind ein substanzieller, zugleich symbolischer Stoff – nicht die unbeschriebenen Blätter, die es nicht gibt, sondern die einer Eiche – oder zweier Eichen, wie sie, seit ich denken kann, am Ortsausgang eines mir sehr vertrauten, abgelegenen Dorfes auf einer Pferdeweide am Rande eines kleinen Flusses frei im Marschland stehen. Im Herbst wehen sie wahllos durch die Luft, fallen unvorhersehbar nieder und bleiben scheinbar leblos liegen. Im Frühjahr treiben sie erneut zart, doch kraftvoll, unaufhaltsam, aus den Zweigen. Sie liegen auf der Hand. Sie stapeln sich. Sie sind federleicht und erdrückend schwer.
Ja, das feuchte, abgeworfene, sich in großen Haufen mit vielen dichten und lichten Schichten unter den Eichen sammelnde Laub (solange niemand es zusammenharkt und fortschafft): Ein Kind womöglich, das sich hineinwühlt, das die Blätter und die Erde und ihr Leben fühlt und riecht und hört und schmeckt, vielleicht sogar den sich windenden Regenwurm ganz unten im erdigen Boden – ein ursächliches Bild nur, ein Bruchstück (oder Fundstück), eine Erinnerung, eine Empfindung oder Sehnsucht, die jedenfalls am Anfang eines jeden Textes steht. Ich tendiere zum Grund, dorthin, wo die Blätter landen und dem stillen Wandel unterliegen, um mich – plötzlich und ganz unwillkürlich wiederzufinden in einem Satz oder einer kurzen Wortfolge. (Und stets präsent: mein schmerzliches, vielleicht naives, durchaus auch erotisches Verlangen, mich selbst ganz tief hineinzuwühlen …)
Das Eichenlaub – dies nebenbei – trotzt der Vergänglichkeit weit länger als die Blätter vieler Bäume. Das einzelne Blatt, das auch ein Ahorn-, Buchen-, Birken-, Eschen-, Kastanien- oder meinethalben Ginko-Blatt sein kann und auf den ersten, unerfahrenen Blick einfach und glatt erscheinen mag, ist durch die fortschreitende Zersetzung bald rau und transparent, aber noch immer sehr farbig – rot, rostig, altrosa, mauve, violett, orange, blass- und kräftiggelb, weiß, noch grün, hell oder dunkel, meist aber beige bis braun, unendlich viele Töne und Nuancen – es besitzt grobe und feine Adern und Verästelungen, Poren, Gewebe, komplexe Strukturen, Flechten, Pilze und deren Sporen, metallisches Schimmern, Insektenfraß und Frostbrand – und es löst sich nur sehr langsam auf.
Das Vergehen ist gleichzeitig ein schöpferischer Prozess. Der Baum ist alt und tief in der Erde verwurzelt, in die sich die Blätter binnen Wochen, Monaten und Jahren verwandeln.
Aber was sind für den Schreibenden die Blätter, was sind Bäume? Es ist das allmähliche Dämmern, stets am frühen Morgen mit Blick auf ebenjene: Form, Farbe, Geruch, ein Rauschen, zitternde Klänge, eine Atmosphäre, ein Gefühl und nicht zuletzt eine niemals sichtbare, mitunter aber doch spürbare Energie. Ein Bewusstsein: Meine Sprache ist etwas Organisches, nichts Technisches, sie ist, so wie sie sich mir einflüstert, primär sinnlich und erst im zweiten Schritt gedanklich formbar, sie verläuft vertikal und, äußerst wichtig, horizontal – die Geschichten, die entstehen, sind sämtlich sekundär, wenn auch deshalb nicht minder bedeutsam, sie schließen sich stets an und folgen, um womöglich irgendwann zu führen, wohin auch immer das Blatt fällt.
Ja, die Blätter sind‘s, und dann, mitunter vollkommen überraschend, sind es schon wieder bunte Treppenstufen, Schmetterlinge und Kaugummiautomaten, Gaspumpen und ein Swimmingpool ohne Wasser (dafür, kein Witz, bis zum Rand gefüllt mit Laub), eine Koniferenhecke, ein Kartoffelacker, alte Schwarzweiß-Fotografien (das Übliche …), eine Zwangsjacke, ein U-Bahn-Schacht, ein Schornstein, eine Fernsehsendung an einem nostalgischen Nachmittag, die melancholische Stimme eines Sängers und das Grau und die Stille eines Sonntags, die es sich anzueignen und zu verdichten, vielleicht auch aufzuhellen gilt.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoff für Erzählungen«, mit Iris Wolff, Selim Özdogan und Tobias Schwartz am 16. November 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

Blätter © Tobias Schwartz

Blätter © Tobias Schwartz

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