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Bilder, die elektrisch rufen

Julia von Lucadou

33_Lucadou_Bilder die elektrisch rufen © privat

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Ich stehe vor einem Bild. Wie angewurzelt. Es hat mich aus dem Augenwinkel angeschrien, als ich den Museumsraum betreten habe. Hat nach mir gerufen. Sehr laut. In seiner Rigidität. In seiner Kälte. Ein monochromes Schwarz-Grau. Harte, gerade Linien. Geometrische Präzision.

Ich kann mich nicht vom Bild abwenden. Von dem Eindruck der Verdrängung, den es in mir weckt. Dass hier jemand etwas Unbändiges, Rohes zu kontrollieren versucht, unter der Oberfläche zu halten. Dass hier jemand hinter der Präzision der Oberfläche, in diesem grau-linierten Rechteck ein Monster einzuzäunen versucht.

Das Bild erinnert mich an jemanden. Jemanden, den es nicht gibt. Jemanden, den es geben könnte. Jemanden, der in meinem Kopf darauf wartet, auf Seiten geboren zu werden.

Ich stehe vor einem Bild des koreanischen Künstlers Park Seo-Bo. Ecriture No. 990227. Er kennt weder mich, noch ich ihn. Und trotzdem ruft er mir Ideen zu. Plötzlich, im Museum. Erzählt mir von jemandem, erzählt mir eine Geschichte.

Je genauer ich hinschaue, desto mehr wird sichtbar. Die seltsam widersprüchliche Weiche des Materials. Seine harten Linien entpuppen sich als schmale Papier- oder Stoffkanten, die aus der glatten Oberfläche hervorstehen und deren Ränder zerfasern. Ihre Unregelmäßigkeit wirkt so natürlich, so menschlich, so verletzlich. Die Person in meinem Kopf beginnt sich zu öffnen, ich sehe Narben auf ihrer Haut, auf ihrer Hirnrinde, auf ihrer Retina. Ich möchte mehr über sie herausfinden. Und beginne, über sie zu schreiben.

 

An der Wand neben meinem Schreibtisch klebt ein Mosaik von Bildern. Ein*e Werbedesigner*in würde das wahrscheinlich ein Moodboard nennen, ein visuelles Projekt-Konzept. Die Bilder an meiner Wand verkörpern zwar auch Moods, also Stimmungen für mich, aber sie folgen keiner Konzept-Logik. Sie sind Inspirationszünder. Es sind Kunstwerke anderer, denen ich zufällig irgendwo begegnet bin in Museen, auf Straßen, im Internet. Und die mich berührt und etwas in mir ausgelöst haben: Sätze oder Plot-Ideen oder Charaktere. Wenn ich im Schreiben nicht mehr weiter weiß, sehe ich sie mir an und sie rufen mir Ideen zu.

Also ist mein Schreibprozess auch immer ein Stück weit Kollaboration mit Künstler*innen, die nichts davon wissen. Ich stelle mir die Künstler*innen der Welt in einer Art Stromkreislauf vor, in dem kreative Elektrizität weitergegeben wird. Und hoffe, dass meine Texte auch manchmal irgendwo einen Funken überspringen lassen.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »›Tick Tack‹ und ›Simonelli‹«, Lesung und Gespräch mit Julia von Lucadou und Denis Pfabe am 28. April 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

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