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Ankommen / Nicht ankommen

Nava Ebrahimi

29_Ebrahimi_Ankomme Nicht ankommen © privat

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Ich habe sentimentale Gefühle für die A3, genauer gesagt für den Abschnitt zwischen Dreieck Köln-Heumar und dem Wiesbadener Kreuz. Viel Zeit habe ich als Scheidungskind zwischen Köln (Mutter) und Frankfurt (Vater) auf der A3 verbracht, und wenn wir umgezogen sind, was wir oft taten, dann immer entlang der A3. Mir machte es nichts, im Auto zu sitzen, im Gegenteil, ich bevorzugte es, unterwegs zu sein, die Landschaft vorbeiziehen zu sehen, anstatt in ihr anhalten zu müssen. Ankommen betrübte mich.

Inzwischen lebe ich in Österreich und fahre hauptsächlich Zug.

Lange Zeit hatte ich also nicht mehr an die A3 gedacht, als ich kürzlich im ICE von Frankfurt nach Köln saß. Etwa bei Montabaur fiel mir die Autobahn auf, die über eine längere Strecke so nah an der Bahntrasse verläuft, dass ich sogar die Schilder lesen konnte. Bad Ems, Ransbach-Baumbach, Dierdorf, Urbach, an jeder Ausfahrt hatte ich einmal gewohnt, ein Kinder-, später Jugendzimmer besessen, Freundinnen getroffen, den Schulbus verpasst, Liebesbriefe geschrieben, mich auf Hüttenpartys betrunken.

Der ICE glitt mit 300 Stunden/Kilometer an all dem vorbei, dennoch erkannte ich sogar die Autobahnbrücke von Deesen wieder. Zwei Jahre lang hatte meine Mutter eine Wohnung in diesem Dorf gemietet (Ausfahrt Ransbach-Baumbach), dessen größte Attraktion diese Brücke war. Im Geiste sah ich mich, zehn-, elfjährig, in der Abenddämmerung darauf stehen. Immer herrschte viel Verkehr. Die Autos, die von mir wegfuhren, leuchteten Rot, die Autos, die auf mich zufuhren, Weiß. Ich erinnerte mich, dass ich dieses Bild in meine eigene Logik übersetzt hatte: Die Autos, die wegfuhren, die Roten, waren böse, teuflisch, weil sie wegmussten, nicht bleiben konnten. Die Autos, die auf mich zu kamen, ankamen, die Weißen, waren gut, sie waren die Engel. Ich lachte unter meiner Maske, als mir das wieder einfiel. Lächerlich, ja, aber im Grunde dachte ich lange, eigentlich bis vor Kurzem, dass es ein Manko, ein Stigma ist, nicht ankommen zu können, keinen Ort zu haben, an dem man sich verwurzelt fühlt. Dass es einer Charakterschwäche gleicht, sich verabschieden, Menschen die Rücklichter zeigen zu können, davonzubrausen in die Dunkelheit, ohne noch einmal stehen zu bleiben.

Inzwischen weiß ich es besser.

Und inzwischen lebe ich seit neun Jahren in Graz, so lange, wie an keinem anderen Ort. Das halte ich aus, weil meine Figuren weiter umherziehen und ich regelmäßig in sie umziehe. Die Unfähigkeit, der Unwille anzukommen, in mir oder sonstwo, treiben mich zum Schreiben an.

Der ICE drosselte kurz vor Köln-Deutz die Geschwindigkeit. Die ersten Fahrgäste zogen sich die Jacken an. Meine Fahrt endete ebenfalls dort. Ich freute mich auf Köln. Aber da war auch diese Traurigkeit, diese alte, vertraute, die mich im Moment der Ankunft verlässlich überfällt. Die Beziehung zwischen dieser Freude und dieser Traurigkeit: Das ist mein Stoff.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Das Paradies meines Nachbarn«, Lesung und Gespräch mit Nava Ebrahimi am 25. Januar 2022, moderiert von Maryam Aras.

Materialsammlung »Stoffe«

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