LCB

*

Wolfram Lotz

* © Wolfram Lotz

* © Wolfram Lotz

Von den sprachlichen Möglichkeiten bekam ich vermutlich zum ersten Mal eine (noch etwas simple) Ahnung anhand der WUTGLOCKEN, die wir damals, im Schwarzwald, in der Grundschule Tag für Tag tragen mussten. Es war eine kleine Messingglocke, die an einer Weißblech-Halterung angebracht war, die wiederum befestigt war auf einer Haube aus hellem Leinstoff, die wir auf dem Kopf trugen und die wir morgens, vor Beginn der ersten Stunde, mit einem schmalen Klettverschluss unter dem Kinn auf unseren Köpfen SELBSTSTÄNDIG festzumachen hatten. Dazu gehörend hatten wir alle ein kleines Hämmerchen aus Holz, für das es keine Halterung gab, sondern das wir nach Belieben verstauen konnten, in die Hosentasche steckten, oder in den Gürtel (was ich machte, weil es dadurch ein bisschen wie ein COLT wirkte), oder einfach in der Hand mit uns herumtrugen. Das Schöne daran ist nun, dass mir bis heute nicht völlig klar ist, worauf sich der Begriff WUTGLOCKE genau bezog. Denn einerseits war es so gedacht, dass man den anderen aus Wut mit dem Hämmerchen auf deren Glocken haute, und andererseits war es eben so, dass die Messingglocke einen solch durchdringenden Klang hatte, dass man nach spätestens zwei Schlägen auf die eigene, durch die ins Gehirn gehenden Vibrationen vermutlich, richtig wütend wurde. Weshalb es häufig so war, dass wir uns gegenseitig so lang und anhaltend auf die Glocken schlugen, dass es im ganzen Schulgebäude für Stunden bimmelte. Der Begriff stimmte also auf unterschiedliche Weise, und vielleicht habe ich da in ersten Ansätzen begriffen, was die Sprache vermag: und zwar mehr, als nur eine bestimmte Bedeutung mit sich zu tragen.



Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?
Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von Stoffe: »Heilige Schrift I« und »Unter Stunden« mit Wolfram Lotz und Robert Stripling am 5. Oktober 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

* © Wolfram Lotz

* © Wolfram Lotz

360