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Zwischen den Zeilen

Judith Hermann

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© Judith Hermann

Der Weg in eine Geschichte hinein ist fast immer ein Satz. Einfache Aneinanderreihung von Worten, manchmal an mich und meist an andere gerichtet, Information, Zustandsbeschreibung, Frage.
Eine Bemerkung.

Für mich war mein Vater wie Juri Gagarin.
Ohne Beschädigung kommt man nicht davon.
Deine Schwester war schon immer eigen in Bezug auf ihre Hände.

Beispiele – ich kann sie hier aufschreiben (verraten), weil sie gar nicht wirklich besonders, nicht auffällig sind, sie sind eindimensional, Sätze aus Papier. Das Besondere ist der Zusammenhang, in dem sie gesagt worden sind, die Situation, in der sie – schön eigenartiges Bild – gefallen sind, ich sie gehört habe. Dieser Zusammenhang ist etwas anderes, ich kann ihn hier nicht erzählen, ich muss ihn für mich behalten. Er ist so etwas wie ein Enigma, ein Rätsel. Ein Raum, in dem diese einfachen Sätze von einem auf den anderen Moment einen doppelten Boden bekommen, eine zweifache, dreifache Bedeutung, zwischen ihren Worten tut sich ein Abgrund auf, eine Welt. Zwischen ihren Zeilen. Es wird etwas scheinbar Einfaches gesagt, aber darüberhinaus wird noch etwas anderes, Diffizileres, gesagt und hinter diesem Diffizilen etwas ganz anderes, etwas Drittes; grundloses Sehen von Verbindungen, begleitet vom Empfinden großer Bedeutsamkeit – das ist es, was diese Sätze in mir auslösen. Ich höre das Gras wachsen. Es ist schwer zu vermitteln. Mitunter beinah körperlich – ein Bedürfnis nach Besitz, ich möchte diesen Satz besitzen, ich möchte eine Geschichte haben, in der einer genau diesen Satz zu einem anderen sagen kann und den Tisch finden, an dem dieser Satz gesagt wird, das Zimmer, in dem der Tisch steht, das Haus, in dem das Zimmer ist, aus dem der, der den Satz gesagt hat, dann hinausgehen und verschwinden kann, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Nimmerwiedersehen. Wenn ich diese Geschichte gefunden habe, habe ich das Rätsel in keiner Weise gelöst. Im Gegenteil, ich habe es manifestiert. Aber etwas an dieser Manifestation ist tröstlich, es ist die Bestätigung für die finale Unkenntlichkeit der Welt. Ich schreibe eine Geschichte um einen solchen Satz herum, der Satz ist ihr Zentrum, ihr Apfelkern, die Geschichte entsteht von diesem Satz aus in einer Rückwärtsbewegung zu einem Anfang hin, dann geht sie los, erzählt was, nimmt den Satz mit sich, löscht ihn aus und ist – meist unerwartet und plötzlich, aber unabdingbar – zu Ende. Unmöglich, diese Sätze in den geschriebenen Geschichten später wiederzufinden, ein Textgeflecht, in dem alles miteinander verwoben ist. Was habe ich gehört, was habe ich hören wollen, was hat jemand zu mir gesagt oder hat es eben niemals gesagt, bis heute nicht gesagt, auf welchen Satz warte ich eigentlich immer schon. Zwischen den Zeilen der Geschichten stecken die Jahre, Glück und Verletzungen. Erinnerungen, und immer dieselben Fragen. Sie aufzuschreiben, heißt sie aufzuheben – und sie zu verlieren. Das ist nicht einfach, aber auch nicht das Gegenteil von einfach.

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: >Daheim<«.

Materialsammlung »Stoffe«

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© Judith Hermann

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