LCB

Zeugen/Zeugnisse

Sebastian Köthe

Der Kiesboden im Gefangenenlager Guantánamo Bay. Detail einer Fotografie von Shane T McCoy.

Wenn ich mit anderen Menschen und für andere Menschen schreibe – was ist dann mein «Stoff»?

Ich schreibe, weil mich die Zeugnisse von Überlebenden politischer Gewalt angesprochen haben. Es handelt sich um die etwa 780 Menschen, die im Gefangenenlager Guantánamo Bay gefoltert wurden: Mansoor Adayfi, Adnan Latif, Sabri al-Qurashi, Mohammed el-Gharani, Murat Kurnaz und viele andere. Heute, 21 Jahre nach Eröffnung des Lagers, sind 32 Männer dort noch immer unrechtmäßig gefangen. Ihre Berichte, Abschiedsbriefe, Gemälde oder Gedichte, kurz: ihre Zeugnisse sind kein «Stoff». Machtvolle Institutionen machen Menschen zu Stoffen, etwa indem sie sie überwältigen, orangefarben einkleiden, in den Staub werfen, Fotos von ihnen schießen und diese um die Welt jagen. Ein solcher Angststoff soll Außenstehenden jeden Anflug von Solidarität austreiben und das schale Glück geben, selbst in relativer Freiheit verblieben zu sein.

Die Überlebenszeugen Guantánamos haben auf andere Stoffe zurückgegriffen. Sie haben sich die Materialität des Lagers angeeignet, um sich auszudrücken. Sie haben in den Sandboden gezeichnet, Gedichte in Becher gekratzt, mit ihrem Blut die Wände beschrieben. Später haben sie mit Sand und Kies und Farben gemalt und Schiffe aus Stofffetzen, Plastikteilchen und Pappkartons gebaut. Bei Berührung bröckeln diese Werke, weil der Kleber nicht mehr hält oder das schlecht gelagerte Papier beschädigt ist. Eine Kunst, die sich nie in Sicherheit weiß und auf die Versehrtheit der Künstler verweist. Antworten auf diese Arbeiten, zum Beispiel in Form von Texten, nehmen ihre Stofflichkeit auf, ohne die Künstler-Zeugen selbst zum Stoff zu machen. Sie nehmen ein wenig die Gestalt von Sand, Becher und Blut an, versachlichen die Überlebenden aber nicht ein weiteres Mal.

Als kulturwissenschaftlicher Autor schreibe ich, um die Zeugnisse in Beziehungen zu setzen. Ich schreibe, um die erfahrungszentrierten Berichte um institutionelle, historische oder symbolische Perspektiven zu ergänzen, die ihre mehr-als-persönlichen Bedingungen offenlegen. Ein Hungerstreik ereignet sich in einer tiefen Geschichte von Hungerstreiks. Ein Bericht wird in einer schon lange gesprochenen Sprache gegeben. Ein Zeugnis verändert seine Bedeutung, je nach Medium, Ort, Zeit und Kontext seiner Lektüre. Es gibt den Wunsch, die Zeugnisse nicht zu kommentieren, sondern schlicht Wort für Wort abzuschreiben, was ließe sich hinzufügen oder wegnehmen. Das hieße aber, genau das verweigern, was sie verdienen: eine Antwort.

Eine Antwort kann die Beglaubigung des Leidens, der Trauer und Wut in den Zeugnissen bedeuten, – das kann sie für ein bestimmtes Publikum vernehmlicher machen, so ungerecht es auch ist, dass manche Zeugnisse auf mehr Fürsprache angewiesen sind als andere, dass jedes Zeugnis alle Fürsprache verdient hätte. Eine Antwort kann eine strategische Einspeisung der Zeugnisse in anerkanntere Diskurse – zum Beispiel des politischen Widerstands oder der Kunst – sein, damit Verlage, Universitäten und Literaturhäuser, damit beliebige Menschen ihnen mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen schenken. Eine Antwort kann schlicht eine sehr langsame und darum redliche Form der Lektüre sein.

Wenn ich Geschichten von Gewalt und Überleben erzähle, Kunstwerke beschreibe, Übersetzungen anfertige oder begleite, dann geht es nicht um mich – ohne dass ich mich künstlich aus der Rechnung hinausnehme. Ich bleibe da – als Resonanzkörper, als Schreibweise, als Knotenpunkt in einem sozialen Netz, als ein Set von Privilegien und Handlungsmöglichkeiten. Natürlich bin ich auch mit meinen blinden Flecken und Begrenzungen da. Der Balanceakt liegt darin, weder in den Vordergrund zu treten, noch mich zu verstecken.

Wenn «Stoff» hier die Erfahrungen von Folter, Widerstand und Überleben meinen sollte, dann kommt der Begriff – bei aller Sympathie für eine materialistische Neuordnung der Dinge – an eine Grenze. Diese Grenze liegt in der Würde der bezeugenden Personen. Ihre Erfahrungen sind kostbar: Sie bedeuten ein singuläres Leben. Sie erproben in einer Extremsituation politisch-ästhetische Formen eines anderen Zusammenlebens. Sie halten ein Wissen über die gewaltsame Verfasstheit der westlichen Machtapparate bereit. Mit diesem Stoff, der kein Stoff ist, lässt sich nicht einfach umgehen. Die Überlebenden und ihre Zeugnisse, auf deren eigener Lebendigkeit sie beharren, sind gleichsam fragil und handlungsstark, singulär und kollektiv, intim und öffentlich. Sie bedürfen der Übersetzungen und sperren sich jeder Veränderung. Man kann nicht über sie schreiben, sondern nur mit ihnen – wie vermittelt auch immer – in Beziehung treten.



Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?
Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »WOW: Das Neujahrs-Casino mit Inokai & Sielmann«, mit Sandra Hetzl, Sebastian Köthe, Biba Nass, Raphaëlle Red, Slata Roschal, Caca Savic, Felix Schiller, Miriam Zeh und den Kuratorinnen Yael Inokai und Lara Sielmann am 17. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Der Kiesboden im Gefangenenlager Guantánamo Bay. Detail einer Fotografie von Shane T McCoy.

360