Wir sind vermessen
Biba Nass
Marie-Luise Scherer. Du schreibst, „Du kannst dich mit den anderen nicht messen.“ Wahrscheinlich hast du Recht, aber ich muss hinzufügen, dass du dich mit dir selbst auch nicht messen kannst. Ich habe es versucht und bin immer wieder gescheitert. Ich habe meinen Mund so weit wie möglich aufgeklappt, habe versucht ihn offen zu halten und du hättest vermutlich bis zu meinem Herzen sehen können, wärst du dabei gewesen. Aber ich war alleine, schließlich wollte ich mich mit mir selbst und nicht mit Anderen messen. Ich habe einen gelben Maßstab in meine Luftröhre geschoben, habe ihn an meinem Kehlkopf, der seitdem Gel etwas gewachsen ist, entlang gedrückt. Ich konnte nicht ablesen, wie viele Zentimeter der Kehlkopf gewachsen ist, es ist entweder einer zu viel oder einer zu wenig.
Ich habe es geschafft den Maßstab bis zur Lunge zu schieben. Natürlich musste ich einmal kurz aufstoßen und das hätte reichen müssen, um aufzuhören. Aber ich habe weiter versucht mich mit mir selbst zu messen, weil du sagtest man könne sich mit den Anderen nicht messen und irgendetwas wird man ja wohl messen können. Aber ich muss zugeben, dass ich mich vermessen habe, denn der Maßstab steckt seitdem in meiner Lunge fest und ich habe Sorge, dass er dem Kehlkopf, der mit jedem Hub Gel etwas wächst, Platz weg nimmt.
Ich habe versucht mich mit mir selbst zu messen, weil du sagtest, dass man sich mit anderen nicht messen kann.
Aber wir sind vermessen.
Iris Radisch schrieb im Dezember 2022, dass dir Journalistenpreise an die Brust geheftet wurden. Ich hoffe sehr, dass du deine Brüste mochtest. Für mich klingen Preise an der Brust wie ein Alptraum. Preise würde ich nur annehmen, wenn sie mir auf meine Füße gedrückt werden, weil sie der einzige Bereich an meinem Körper sind, der nicht platzen kann.
Bei dir drücken die Preise bei mir drückt der Stoff. Der Stoff, der auf meinen Oberkörper drückt ist schwarz, rau und sorgt dafür, dass meine Brust weniger sichtbar ist, bis ich endlich die Möglichkeit habe, sie mir anschneiden zu lassen. Seitdem ich versucht habe mich mit mir selbst zu messen, sieht man den Maßstab aus meiner Brust heraus stechen. Ich werde die Person, die meine Brüste abschneidet fragen, ob sie auch den Maßstab mit herausholen kann, wenn sie schonmal dabei ist. So werde ich es sagen: Wenn sie schonmal dabei sind, können sie bitte auch den Maßstab herausholen? Der schwarze Stoff auf meiner Brust wird nach dieser Operation überflüssig, es bleiben zwei Narben und hoffentlich zwei Nippel. Der Stoff für mein Schreiben wird nach der Operation vielleicht sogar wichtiger. Der Stoff für mein Schreiben besteht aus Gerd Katter, immer noch aus der Farbe Blau, immer noch aus der Liebe zur Unsicherheit.
Meinem Schreiben zur Liebe, werde ich schon vor der Operation fragen, ob ich das Fleisch meiner Brust behalten darf. Darf ich das Fleisch meiner Brust behalt? So werden ich es fragen. Damit ich es, nachdem ich es mit dem bluttriefenden Maßstab gemessen habe, essen kann. Ich werde die Scheibe meiner eigenen Brust auf ein trockenes Stück Brot legen und etwas Salz drüber streuen. Nach dem Schlucken habe ich kurz Sorge, dass sich das Fleisch zurück an die gewohnten Stellen legt, aber das passiert natürlich nicht. Meine Brust wird von meinem Körper verdaut und für immer im Abfluss verschwinden.
Mein Schreiben versucht zu gedenken, an all jene Körper, die immer wieder aufgestanden sind, es schreibt sich an ihrer Haut entlang. Ich setze die Klinge eines Wortes auf meine Haut und schneide zu, das Blut fließt und ich forme Worte, reihe sie aneinander bis sich alles in der Farbe Blau kristallisiert, in den Himmel aufsteigt, der wenn man genau hinsieht zwar Blau, aber voller roter Schnitte, ist. Sie zieren ihn parallel mit einem Abstand von genau 5 mm. Wenn man genau hinsieht, ist deshalb auch der Regen Rot und erzählt, was erzählt werden will. Die Stoffe, die ganz zärtlich versuchen die Schnitte zu verdecken, machen mein Schreiben aus. Die Stoffe die immer röter und schwerer werden bis sie herunterfallen, machen mein Schreiben aus. Und nun ist ein Text über dich auf meine Brust gefallen, die immer noch nicht abgeschnitten wurde, und ich habe versucht mich mit ihm zu messen.
Aber wir vermessen uns immer wieder.
Ich hoffe, dass dein Hund das Zug fahren lieber mochte als meiner. Meiner hat erhöhte Speichelproduktion, sobald wir in den Zug steigen. Sein Speichel tropft auf die Worte und ich kann sie kaum noch lesen. Ich hoffe, dass du die Preise an deinen Brüsten nicht versucht hast zu messen oder sogar abzuschneiden. Ich hoffe du würdest kurz lächeln, würdest du diese Worte lesen, weil dieser Text dir gewidmet ist, auch wenn ich mir sicher bin, dass du mit dem Festigkeitsgrad meiner Sätze nicht ganz glücklich wärst. Zu wenige Knochen, zu viele Organe und Körperflüssigkeiten, würdest du denken und nach einer Feile greifen. Aber lass mich dir sagen, auch meine Knochen wachsen, seitdem das Gel in meine Arme sickert und manchmal weiß ich nicht mehr woran ich mich festhalten soll. Also gehe ich lieber schwimmen, in Magensäften oder meiner eigenen Lunge. Immerhin ist ein Maßstab in meinem Körper verloren gegangen, seitdem hat der Festigkeitsgrad zugenommen. Die Merkwürdigkeit dieser Situation hätte dir sicher gefallen.
Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.
Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »WOW: Das Neujahrs-Casino mit Inokai & Sielmann«, mit Sandra Hetzl, Sebastian Köthe, Biba Nass, Raphaëlle Red, Slata Roschal, Caca Savic, Felix Schiller, Miriam Zeh und den Kuratorinnen Yael Inokai und Lara Sielmann am 17. Januar 2023.
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