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Wilhelm Genazino

Annette Pehnt

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Als wir uns 2001 kennenlernten, wurde Genazino gerade mit seinem Roman »Ein Regenschirm für diesen Tag« in eine weitere Phase des Berühmtseins katapultiert, und ich hatte mein Debüt veröffentlicht. Unsere ersten Zusammentreffen gründeten in mehreren Missverständnissen. Wir wurden beide mit den Helden unserer Bücher verwechselt; Veranstalter luden uns also gern zusammen ein, den lebenserfahrenen Flaneur und die damals noch junge Flaneuse, und befragten uns zum Schlendern, zur Urbanität und zum Verlorensein. Dass unsere beiden Helden nicht schlenderten, sondern eher taumelten, herumirrten oder wegrannten und auf sehr unterschiedliche Weise trostbedürftig und verloren waren, kam nicht so recht zur Sprache. Das nächste Missverständnis bestand darin, dass Genazino mir den Vornamen Anne zugedacht hatte und zunächst auch dabei blieb. Natürlich hätten wir uns niemals geduzt oder mit Vornamen angeredet, aber in den Hotels hinterließ Genazino mir ab und zu freundliche Grüße, säuberlich notiert auf Zetteln, die, zusammengefaltet und mit dem Namen ‚Anne Pehnt‘ versehen, an der Rezeption auf mich warteten. Dieser Fehler schmerzte mich, und als wir die Flaneur-Phase hinter uns hatten, nahm ich meinen Mut zusammen und wies ihn darauf hin. Nach den Lesungen wartete immer ein kleines, schweigendes Rudel mittelalter Damen mit erhitzten Gesichtern auf ihn. Sie hatten keine Bücher zum Signieren dabei; manche flüsterten ihm etwas zu, andere schoben ihm kleine Notizen oder Fotos hin. Er betrachtete sie mit diesem ausdruckslosen Blick, den er manchmal hatte, nickte abwesend und wartete, bis sie gingen. Ich vermutete hinter diesem merkwürdig leeren, nicht gleichgültigen, aber gleichmütigen Gesichtsausdruck, für den die Genazino-Exegeten damals noch nicht den ‚gedehnten Blick‘ zur Hand hatten, eine Art Abwehr gegen Überschwang und Distanzlosigkeit. Wer weiß. Er hat es mir nicht verraten. Interessant fand ich den Wunsch dieser Damen, molekülweise auch in mir vorhanden, ihm nah zu sein, ihm eine Dagmar, Karin oder Traudel zu sein. Das Nicht-Zurechtkommen seiner Figuren rief uns auf, Beistand in altmodischer, unemanzipierter Form zu leisten, seine Hosen zu flicken, seine feuchten Schuhe mit Zeitungen auszustopfen. Wir wollten ihm in der Schule der Besänftigung Butterbrote schmieren. In diesem Wunsch rumoren auch wieder viele Missverständnisse und zugleich eine gütige Beruhigungsanstrengung, zu der Genazinos Figuren uns aufrufen, gerade weil sie selbst dazu nicht fähig sind.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Der Traum des Beobachters«, mit Helmut Böttiger, Kristof Magnusson und Annette Pehnt am 31. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

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