LCB

Wilhelm Genazino

Kristof Magnusson

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Der Schriftsteller als Flaneur – Baudelaire, Robert Walser, Edgar Allan Poe… ist ein alter Hut. Und doch wird dieses traditionell sehr männliche Konzept von weiblichen und queeren Autorinnen nicht etwa über Bord geworfen – sie machen es sich zu eigen, wie zum Beispiel die Anthologie »Flexen. Flaneusen* schreiben Städte« zeigt. Das Herumlaufende, im wahrsten Wortsinne beiläufige Beobachten ist weiterhin aktuell.
In »Der Traum des Beobachters« erfahren wir, dass Wilhelm Genazino mit dem Wort ‚Flaneur‘ nichts anfangen konnte. Und doch war er in seiner Welt unterwegs und hat sich Notizen gemacht. Wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen auch: Das sich-Notizen-machen gehört zum ganz normalen artgerechten Verhalten des Schriftstellers.
Doch Genazino ist weiter gegangen. Zu Hause angekommen, hat er sich an die Schreibmaschine gesetzt und diese Notizen abgetippt und nach einer eigens dafür entwickelten Systematik mit Nummern versehen. Geordnet. Verschlagwortet. Abgeheftet. Fast 50 Jahre lang. 38 Aktenordner lang.
Er wollte, so scheint es mir, seine Erinnerungen, sein Verhältnis zur Welt nicht einfach nur festhalten. Er wollte es … zementieren? Kontrollieren?
Auf jeden Fall musste er alles festhalten, von der verbrutzelten Bratwurst über den zerplatzen Liebestraum, bis zu Gedanken über Sex, Mao und Marcel Beyer. So ist ein Welttagebuch entstanden, das er Werktagebuch genannt hat.
In den letzten fünfundzwanzig Jahren habe ich immer Wilhelm Genazino gelesen. Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre von »Der Traum des Beobachters« für mich etwas ganz Besonderes. Als würde man mir nach einem ausgiebigen Abendessen statt eines Digestifs die Zutaten auf den Tisch stellen. Hier ist so vieles, das sich in seinen Werken findet, die Grenzen zwischen Welt und Werk, Notiz und Fiktion verschwimmen. Man bekommt das tristeste Kleinod, das banalste Unglück präsentiert, taucht tief ein in die Melancholie – doch man versinkt nie in ihr. Wilhelm Genazino ist so nah herangegangen, dass auch das Normalste wieder etwas Besonderes bekommt. Er hat den Alltag so genau angesehen, bis der fremd zurückgeschaut hat. Ein Notat vom 25. Februar 1998 bringt es für mich auf den Punkt: „Regentag. Tauben essen auch nasses Brot.“ So blickt nur ein ganz großer Autor in den Regen.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Der Traum des Beobachters«, mit Helmut Böttiger, Kristof Magnusson und Annette Pehnt am 31. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

360