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Wilhelm Genazino

Helmut Böttiger

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino erzeugt in seinen Romanen ständig ein Spannungsfeld zwischen Melancholie und Komik, darin besteht sein Geheimnis. Und das hat etwas damit zu tun, dass das Schreiben für ihn programmatisch die Rettung aus beengten Verhältnissen ist. Ständig kehrt die 2-Zimmer-Wohnung wieder, in der die Familie zu fünft gelebt hat. Über eine „Autofiktion“ gehen seine Romane weit hinaus, die Protagonisten verflüchtigen sich immer mehr und schaffen einen eigenen poetischen Raum.

Genazinos Welt besteht nicht aus dem klassischen Proletariat, sondern aus dem Kleinbürgertum im frühen bundesdeutschen Wohlstandsstreben. Das führt zwangsläufig zu abgründig komischen Bildern. Ständig wird über Themen wie Scham oder Peinlichkeit improvisiert, die im Gegensatz zum Habitus standardisierter bürgerlicher Karrieren stehen, und dabei bildet die Zeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre für diesen Autor ein mythisches Potenzial. Die Namen weiblicher Figuren verbinden sich organisch mit den Schreibmaschinenmodellen jener Zeit, sie heißen Monika oder Gabriele, und sie werden im Nachhinein zu etwas Verheißungsvollem, das man sich erschreiben kann. Genazino ist vermutlich der letzte deutsche Autor, der an Kafkas existenzieller Aufladung von Literatur anknüpft. Seine Helden sind Apokalypseforscher. Einmal steht so eine Figur einem dieser Kulturleute gegenüber, die keine Selbstzweifel haben, und stellt fest, „dass der rasende Betrieb nur noch Melancholie hervorbringen kann.“
Genazinos Witz ist nicht harmlos.


 

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Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Der Traum des Beobachters«, mit Helmut Böttiger, Kristof Magnusson und Annette Pehnt am 31. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

Wilhelm Genazino © Hanser Verlag

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