Westberlingefühl
Bude Munk Wieland
Bier und Bücher
Datiert vom 23. April 2001 schickten mir Heidi und Peter eine Karte in scharf glänzenden Farben in der Größe eines Fotoabzugs von 10 x 15 cm aus Chiang Ma (Thailand). Irgendjemand musste sie aufgenommen haben. Es war Heidis gut lesbare Schrift. „Wir feiern heute den Welttag des Buches, den Tag des deutschen Bieres und Peters 65. Geburtstag.“
Ich war 46 und fühlte mich sehr geehrt. Die beiden hatten mir eine Botschaft der Treue übersandt. Die Treue zum Buch und die Treue zum Bier. Man muss sich keine feinen Gewänder anziehen, wenn man sich die Worte der Freunde vorlesen will, man sollte lieber ein Bier aus dem Kühlschrank holen und zwischen den Zeichen den Hintergrund erkennen, der nichts bedeutet.
„You Can’t Judge a Book by it’s Cover“, hieß die Gabe von Merve zum 25. Geburtstag des Verlags im Jahre 1995. Wer mit 65 immer noch nicht aufgegeben hat zu lesen, weiß, dass die Bücher wie das Bier zum Leben gehören.
Traveling subjects – Lebensstoff
Sie kommen in der Nacht. In den Stunden nach Mitternacht und bevor die Dämmerung einsetzt. Zu hören sind das entfernte, langgezogene Quietschen der Straßenbahn und vereinzelt der kahle Ruf eines Vogels. Ich liege ausgestreckt auf der Matratze. Meine Augen sind geschlossen. Wovon bin ich aufgewacht?
Es ist ein wunderliches Gefühl, mitten in der Nacht, zu einer Stunde, zu der es nichts zu tun gibt und alle schlafen, hellwach zu sein. Ich habe den Schutz des Schlafes verloren und halte die Augen fest geschlossen. Nuit blanche nennen die Franzosen diesen Zustand.
Obwohl es ganz still ist, spitze ich die Ohren. Dabei weiß ich doch, dass sie stimmlos sind. Sie sind da, ganz nah, aber sie bedrängen mich nicht.
Es sind die Gefährtinnen und Gefährten, von denen ich nicht weiß, ob sie noch leben. Es gibt die eine, von der wir wissen, dass sie tot ist. Sie liegt auf einem Friedhof im alten Westberlin. Dort, wo früher die Naziwitwen wohnten und dort, wo wir, als wir jung waren, nie sein wollten und uns fremd fühlten. Ein steinerner Engel schützt ihr Grab, in dem sie ganz alleine liegt. Doch gleich gegenüber ist das Grab von Marlene Dietrich und nicht weit entfernt davon das von Oskar Pastior. Fast muss ich lachen, als mir einfällt, wie Herta Müller ihren Freund Oskar, nachdem sie das Buch über ihn abgeschlossen hatte, aufforderte, ab jetzt allein auf dem Friedhof zurechtzukommen. Sie schickte ihn zu Marlene. „Die liegt auch dort.“ Vielleicht sitzen Marlene Dietrich und Oskar Pastior nachts zusammen auf der Bank, rauchen, schweigen und Soraya, unsere Freundin, beobachtet sie dabei.
Als unser Buch in den Druck kam, es unumkehrbar war, dass es erscheinen würde, sind Bettina und ich zu diesem Friedhof gefahren. Wir brachten blauen Rittersporn. Bettina versteckte hinter dem steinernen Engel eine Zeichnung der im Sessel eingeschlafenen Soraya. „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“, heißt der Bach-Choral, der nächtelang durch die Küche schepperte.
Unsere Häuser sind verloren. Sie standen in armseligen, dunklen Kopfsteinpflasterstraßen, durch die nur selten ein Auto fuhr. Sie wurden geräumt, abgerissen, saniert. Es waren alte Häuser, denen jede Melancholie fehlte. In den hellwachen Stunden der Nacht gehe ich in ihnen spazieren. In meinem Kopf sind die Grundrisse, die Treppen, die Gerüche, die Fenster, die Türen, die Zimmer gespeichert. Bei Tag suche ich sie vergebens. Stolpere über den Kinderbauernhof, begrüße Enten und Esel, starre auf die müde Spree, fahre mit dem Bus über die lärmige Oranienstraße, stehe ratlos am Heinrichplatz, irre am Kanal umher, bewundere die herzzerreißende Häßlichkeit des Kottbusser Tors, meditiere vor dem Bethanien, wage mich in abgeranzte Hauseingänge, inspiziere aufgeräumte Hinterhöfe, sitze auf der Schaukel am Lausitzer Platz, verfolge ungläubig den Streifen Land, auf dem früher die Mauer stand und erkenne nichts wieder. Die Zeit ist eben nicht im Raum aufgehoben.
Die Gefährtinnen und Gefährten sind in alle Winde verstreut. Doch es ist, als ob sie das Papier, auf das sie gebannt werden sollen, anziehen würde. Ohne dass ich die Augen öffnen würde, erkenne ich sie wieder. Ist das Magie, sind das die Hormone, ein flashback, Zauberei, Inspiration, eine Wahrnehmungsstörung, Überspanntheit? Sind sie aus dem Geist der Erinnerung oder aus der Einbildung der Gegenwart geformt? Lagen sie eng gedrängt in „Erinnerungsschachteln“ (Henri Bergson) zusammen mit anderen Bruchstücken der Vergangenheit?
Oder sind sie Lebensstoff, der sich in den Winkeln der in den Schlaf versunkenen Welt, die mich Wachenden umgibt, versteckt hält? Wo waren sie all die Jahre? Wo waren die, die ich schon lange vergessen hatte und die, die ich nie vermisste? Wo waren die, die ich Freunde nannte und die, die mir schon immer gleichgültig waren? Wo waren die, die ich einstmals liebte und die, die mir so viel bedeuteten? Gehören sie zur Oberfläche meines Lebens oder haben sie tiefere Spuren hinterlassen?
Irgendwann schlafe ich wieder ein. Der Tag bringt mich zur Vernunft. Mein Platz ist am Schreibtisch. Sie erwarten mich schon.
Beton und Bier
Die Performance im Kreuzberger Kunstraum wurde geplant, da ein Betonmischer verwaist am Straßenrand stand. Aktion nannte man das in den Achtzigern, in Fluxustradition. Man trank bei Eröffnungen das Bier aus Dosen, die standen abholbereit im Kühlschrank und waren begehrter als die Kunst. Warum also nicht einen Roten Betonteppich ausrollen, vom Kühlschrank zur Tür. Aus der Menge der Kreuzbergflaneure, der Neugierigen, trat plötzlich ein Mann in die Galerie, hinein in den Lärm der Maschine, der war Maurer auf dem Heimweg. Hatte von Fluxus noch nie gehört, aber kannte sich aus mit Putzkellen und Beton. So wird aus einer Kunstaktion der Stoff zu einer guten Geschichte.
Ausrollen eines Roten Betonteppichs vom Kühlschrank zur Tür
Kunstbüro Kreuzberg 13.9.1985
Video 5:58 min.
Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.
Ein Beitrag von Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland zu unserer Stoffesammlung Stoffe #6. Mehr zu ihrem Roman »Aufprall« unter aufprall.net
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