LCB

Kill your Darlings

Christian Dittloff

25_Dittloff_Kill-your-Darlings-c-C..jpg

Kill your Darlings © privat

Wenn es diesen einen Moment gibt, in dem ich Objekt und Subjekt zugleich war, den Zeitpunkt, an dem ich mich sowohl im Buch befand, als auch verfassend außerhalb von »Niemehrzeit«, dann ist es dieser Abend im März, als der Winter in den Frühling floss.
Ich stehe in meinem Zimmer vor der großen Korkwand, an die ich über einhundert kleine Zettel gepinnt habe. Darauf lakonische Notizen, unverständlich für Außenstehende, doch ich brauche sie, um bestimmte Erinnerungen zu betreten und eventuell doch noch auszuformulieren, um damit Leser*innen in meine Erinnerung zu führen. Neben der Pinnwand habe ich das Motto dieser letzten Arbeitsphase vor der Manuskriptabgabe auf die Tapete geschrieben: Kill your Darlings. Ein Begriff aus dem Creative Writing: genau zu prüfen, ob eine Formulierung den Text bereichert oder verworfen werden kann, da sie nur überdeutliches und selbstverliebtes Sprachspiel ist, ausgerechnet den schönsten Effekt des Lesens gefährdend, sich selbst durch das Ausfüllen der Auslassungen in die Text-Textur zu weben. Und auch ich frage mich einhundertfach: Kann ich diese Notiz irgendwo in den Text hineinbringen oder müssen sie jetzt alle dran glauben? Aber wenn sie nicht im Text sind, wo sind sie dann? Welche Erinnerungen gehören zu mir und welche gehören zum Buch?
Jetzt, da ich diesen Text schreibe, lautet meine vorübergehende Antwort: der Raum der Erinnerung existiert nur zwischen den Zeilen.
Später kommt meine Freundin C. zu mir. Wir essen gemeinsam und ich berichte ihr von meiner Pinnwand. Und während ich das tue, verändert sich meine Auswahl ein weiteres Mal. Nachdem ich wie im Rausch vor dem Kork herumgefuchtelt und erzählt habe, nimmt sie die alte Kompaktkamera meiner Eltern in die Hand und macht ein Foto von mir. Es zeigt mich grinsend, nachdem ich die letzte Erinnerung hinzugefügt habe. Im nächsten Moment drehe ich mich zur Seite und öffne die Balkontür. Es ist so plötzlich mild geworden.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Niemehrzeit« und »Papa stirbt, Mama auch«.

Materialsammlung »Stoffe«

25_Dittloff_Kill-your-Darlings-c-C..jpg

Kill your Darlings © privat

360